Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_176.001 ple_176.026 1) ple_176.042
So z. B. Spielhagen, Beiträge S. 297-313. ple_176.001 ple_176.026 1) ple_176.042
So z. B. Spielhagen, Beiträge S. 297–313. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0190" n="176"/><lb n="ple_176.001"/> wo der Dichter versucht, sich einzelne Charaktere aus ihrem Milieu entwickeln <lb n="ple_176.002"/> und vor unsern Augen ausleben zu lassen; hier ist es zumeist die <lb n="ple_176.003"/> dankbare Aufgabe, die dem Schauspieler gestellt wird, was Stücken wie <lb n="ple_176.004"/> Kollege Krampton, Rose Bernd und Fuhrmann Hentschel ihren Bühnenerfolg <lb n="ple_176.005"/> schafft. Es ist bezeichnend, daß sie beim Lesen völlig kalt lassen. <lb n="ple_176.006"/> Und doch würden die meisten dieser Gestalten, mit der starken und eigentümlichen <lb n="ple_176.007"/> Fähigkeit zum Nachempfinden des Volkslebens, die Hauptmann <lb n="ple_176.008"/> besitzt, wahrscheinlich zu echt dichterischer Wirkung kommen, wenn sie <lb n="ple_176.009"/> etwa in Novellenform episch behandelt wären. Auf der Bühne werden sie <lb n="ple_176.010"/> trotz ihres Modeerfolgs schwerlich ein langes Leben führen. Denn die <lb n="ple_176.011"/> epische Poesie ist einmal dem Theater innerlich fremd, weit fremder als die <lb n="ple_176.012"/> lyrische Dichtung mit ihren Stimmungswirkungen. Es gilt das nicht nur von <lb n="ple_176.013"/> den viel berufenen Erzählungen auf der Bühne, mit welchen technisch unbeholfne <lb n="ple_176.014"/> Schriftsteller die Handlung ersetzen, — spärlich verwandt, können <lb n="ple_176.015"/> solche Erzählungen sogar starke Wirkungen hervorbringen, wie denn die <lb n="ple_176.016"/> griechische Tragödie sie liebte, und auch Schiller, der doch genau wußte, <lb n="ple_176.017"/> was im Theater Eindruck macht, sie gern verwandte. Aber auch diese <lb n="ple_176.018"/> Wirkung beruht darauf, daß das, was erzählt wird, dramatisch gesehen ist, <lb n="ple_176.019"/> und selbst wenn die Erzählung rhetorisch ausgestaltet ist, doch mit jener <lb n="ple_176.020"/> Konzentration auf das eigentliche Geschehen, mit jener innerlichen Atemlosigkeit, <lb n="ple_176.021"/> die dem Drama eignet, vorgetragen und gehört wird. Man kann <lb n="ple_176.022"/> weit eher dramatische Wirkungen in epischen Formen erreichen als umgekehrt. <lb n="ple_176.023"/> Episch aber ist alle Verbreitung ins Detail; epischer Natur sind <lb n="ple_176.024"/> alle Gewebe, die aus den zahlreichen zarten Fäden gesponnen sind, die <lb n="ple_176.025"/> den Einzelnen mit seiner Umwelt verbinden.</p> <p><lb n="ple_176.026"/> Was Hauptmann vergebens erstrebte, diesen Gegensatz zu überbrücken, <lb n="ple_176.027"/> das ist nun freilich einem Größeren gelungen. Man hat Henrik Ibsen, <lb n="ple_176.028"/> denn er ist dieser Größere, vorgeworfen, daß seine Dramen oder wenigstens <lb n="ple_176.029"/> ein Teil derselben keine Dramen, sondern dialogisierte Romankapitel seien.<note xml:id="ple_176_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_176.042"/> So z. B. Spielhagen, Beiträge S. 297–313.</note> <lb n="ple_176.030"/> Und in der Tat läßt es sich nicht bestreiten, daß die bedeutendsten Dichtungen <lb n="ple_176.031"/> seiner späteren Periode: Nora, Gespenster, Rosmersholm, zum größeren <lb n="ple_176.032"/> Teil Probleme behandeln, die ihrer Natur nach nur dem Epiker zugänglich <lb n="ple_176.033"/> zu sein scheinen. Es ist durchaus Entwicklung, was er im Auge hat, <lb n="ple_176.034"/> Entwicklung von Charakteren und Situationen, und sie ist noch dazu <lb n="ple_176.035"/> überall in engstem Zusammenhang mit dem Milieu gedacht und gesehen. <lb n="ple_176.036"/> In der Tat sollte man glauben, daß nur der Epiker, der Romandichter <lb n="ple_176.037"/> uns die innere Geschichte Noras, Frau Alvings, Rebekka Wests anschaulich <lb n="ple_176.038"/> und glaublich machen könnte. Aber durch eine ganz eigenartige <lb n="ple_176.039"/> Technik, die ihrerseits einer entschieden dramatischen Phantasie und zugleich <lb n="ple_176.040"/> ausgesprochenem Bühnensinn entsprungen ist, vermag es Ibsen, den <lb n="ple_176.041"/> Widerspruch zu überwinden.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [176/0190]
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wo der Dichter versucht, sich einzelne Charaktere aus ihrem Milieu entwickeln ple_176.002
und vor unsern Augen ausleben zu lassen; hier ist es zumeist die ple_176.003
dankbare Aufgabe, die dem Schauspieler gestellt wird, was Stücken wie ple_176.004
Kollege Krampton, Rose Bernd und Fuhrmann Hentschel ihren Bühnenerfolg ple_176.005
schafft. Es ist bezeichnend, daß sie beim Lesen völlig kalt lassen. ple_176.006
Und doch würden die meisten dieser Gestalten, mit der starken und eigentümlichen ple_176.007
Fähigkeit zum Nachempfinden des Volkslebens, die Hauptmann ple_176.008
besitzt, wahrscheinlich zu echt dichterischer Wirkung kommen, wenn sie ple_176.009
etwa in Novellenform episch behandelt wären. Auf der Bühne werden sie ple_176.010
trotz ihres Modeerfolgs schwerlich ein langes Leben führen. Denn die ple_176.011
epische Poesie ist einmal dem Theater innerlich fremd, weit fremder als die ple_176.012
lyrische Dichtung mit ihren Stimmungswirkungen. Es gilt das nicht nur von ple_176.013
den viel berufenen Erzählungen auf der Bühne, mit welchen technisch unbeholfne ple_176.014
Schriftsteller die Handlung ersetzen, — spärlich verwandt, können ple_176.015
solche Erzählungen sogar starke Wirkungen hervorbringen, wie denn die ple_176.016
griechische Tragödie sie liebte, und auch Schiller, der doch genau wußte, ple_176.017
was im Theater Eindruck macht, sie gern verwandte. Aber auch diese ple_176.018
Wirkung beruht darauf, daß das, was erzählt wird, dramatisch gesehen ist, ple_176.019
und selbst wenn die Erzählung rhetorisch ausgestaltet ist, doch mit jener ple_176.020
Konzentration auf das eigentliche Geschehen, mit jener innerlichen Atemlosigkeit, ple_176.021
die dem Drama eignet, vorgetragen und gehört wird. Man kann ple_176.022
weit eher dramatische Wirkungen in epischen Formen erreichen als umgekehrt. ple_176.023
Episch aber ist alle Verbreitung ins Detail; epischer Natur sind ple_176.024
alle Gewebe, die aus den zahlreichen zarten Fäden gesponnen sind, die ple_176.025
den Einzelnen mit seiner Umwelt verbinden.
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Was Hauptmann vergebens erstrebte, diesen Gegensatz zu überbrücken, ple_176.027
das ist nun freilich einem Größeren gelungen. Man hat Henrik Ibsen, ple_176.028
denn er ist dieser Größere, vorgeworfen, daß seine Dramen oder wenigstens ple_176.029
ein Teil derselben keine Dramen, sondern dialogisierte Romankapitel seien. 1) ple_176.030
Und in der Tat läßt es sich nicht bestreiten, daß die bedeutendsten Dichtungen ple_176.031
seiner späteren Periode: Nora, Gespenster, Rosmersholm, zum größeren ple_176.032
Teil Probleme behandeln, die ihrer Natur nach nur dem Epiker zugänglich ple_176.033
zu sein scheinen. Es ist durchaus Entwicklung, was er im Auge hat, ple_176.034
Entwicklung von Charakteren und Situationen, und sie ist noch dazu ple_176.035
überall in engstem Zusammenhang mit dem Milieu gedacht und gesehen. ple_176.036
In der Tat sollte man glauben, daß nur der Epiker, der Romandichter ple_176.037
uns die innere Geschichte Noras, Frau Alvings, Rebekka Wests anschaulich ple_176.038
und glaublich machen könnte. Aber durch eine ganz eigenartige ple_176.039
Technik, die ihrerseits einer entschieden dramatischen Phantasie und zugleich ple_176.040
ausgesprochenem Bühnensinn entsprungen ist, vermag es Ibsen, den ple_176.041
Widerspruch zu überwinden.
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