Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_173.001 ple_173.017 ple_173.027 ple_173.001 ple_173.017 ple_173.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0187" n="173"/> <p><lb n="ple_173.001"/> Alle Dichter der Weltliteratur, von denen große dramatische Wirkungen <lb n="ple_173.002"/> ausgegangen sind, vereinigen beide Arten, zu sehen und zu <lb n="ple_173.003"/> bilden, und es ist interessant, wie in ihren verschiedenen Werken, oft <lb n="ple_173.004"/> aber auch innerhalb derselben Dichtung in verschiedenen Szenen, bald <lb n="ple_173.005"/> die Bühne, bald die Wirklichkeit herrscht. Es wäre verlockend, das Gesagte <lb n="ple_173.006"/> an Shakespeare und Schiller, an Kleist und Hebbel zu veranschaulichen, <lb n="ple_173.007"/> aber es würde zu weit von dem Gang unserer Betrachtungen abführen. <lb n="ple_173.008"/> Nur auf Grillparzer will ich kurz hinweisen, weil sein Beispiel <lb n="ple_173.009"/> besonders belehrend ist. Er beginnt in der Ahnfrau mit einem echten <lb n="ple_173.010"/> Theaterstück, das ganz und gar von Bühnenphantasie beherrscht und getragen <lb n="ple_173.011"/> wird, um in seinen letzten Tragödien besonders dem Bruderzwist <lb n="ple_173.012"/> und der Libussa die Fühlung mit der Bühne mehr und mehr zu verlieren: <lb n="ple_173.013"/> geschichtliche Bilder und die Versenkung in inneres Leben erfüllen diese <lb n="ple_173.014"/> Dichtungen faßt ausschließlich. Die Werke seiner Glanzzeit jedoch, von <lb n="ple_173.015"/> „Sappho“ bis „Weh dem, der lügt“, zeigen fast alle eine ausgeglichene <lb n="ple_173.016"/> Verschmelzung von Bühne und Leben.</p> <p><lb n="ple_173.017"/> Es ist begreiflich, daß Dramen, die für die Bühne gedacht sind, bei <lb n="ple_173.018"/> der Lektüre nicht völlig anschaulich werden können, wenn der Leser nicht <lb n="ple_173.019"/> beständig das Theater vor seinem geistigen Auge sieht. Dies aber ist im <lb n="ple_173.020"/> allgemeinen dem, der nicht Theaterpraktiker ist, schwer genug; daher man <lb n="ple_173.021"/> aus der bloßen Lektüre fast niemals zum völligen Verständnis etwa Shakespeares <lb n="ple_173.022"/> oder Ibsens gelangt und bei der Aufführung stets von einer Reihe <lb n="ple_173.023"/> von Zügen überrascht wird, die uns beim Lesen entgangen sind. Selbst <lb n="ple_173.024"/> die sehr ausführlichen Bühnenanweisungen, welche die meisten modernen <lb n="ple_173.025"/> Dichter ihren gedruckten Dramen mitzugeben pflegen, sind nur ein kümmerliches <lb n="ple_173.026"/> Mittel, um die Bühnenphantasie des Lesers anzuregen. —</p> <p><lb n="ple_173.027"/> Das bisher dargelegte Verhältnis zwischen Bühne und Dichtung erklärt <lb n="ple_173.028"/> nun eine weitere wichtige Erscheinung, die Tatsache nämlich, daß <lb n="ple_173.029"/> dramatisch gedachte Vorgänge unter Umständen auf der Bühne unwirksam <lb n="ple_173.030"/> bleiben, andrerseits aber manche Dichtungen im Theater Eindruck machen, <lb n="ple_173.031"/> die ihrem inneren Wesen nach gar kein dramatisches Leben enthalten. <lb n="ple_173.032"/> Die moderne Bühnenkunst zumal, die mit allen malerischen Effekten <lb n="ple_173.033"/> ebensowohl wie mit den musikalischen zu rechnen weiß, vermag mit <lb n="ple_173.034"/> ihren Mitteln ebensowohl einer lyrischen Stimmung zu Hilfe zu kommen <lb n="ple_173.035"/> wie der spezifisch dramatischen Wirkung. Auf die innere Verwandtschaft <lb n="ple_173.036"/> zwischen Lyrik und Drama hat schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen. <lb n="ple_173.037"/> Beide kommen darin zusammen, daß sie innere Zustände darstellen <lb n="ple_173.038"/> und lebendig machen; nur daß die Lyrik bei dem einzelnen verweilt, <lb n="ple_173.039"/> ihn nach Seite des Gefühls und der Stimmung ausschöpft, während <lb n="ple_173.040"/> das Drama in schneller Entwicklung von einem zum anderen hinüberstrebt <lb n="ple_173.041"/> und den Zuschauer mitreißt. Daher hat denn die dramatische <lb n="ple_173.042"/> Dichtung aller Zeiten lyrische Momente aufgenommen, Stellen, wo der <lb n="ple_173.043"/> Zuschauer längere oder kürzere Zeit verweilen, für eine kurze Zeit zu </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0187]
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Alle Dichter der Weltliteratur, von denen große dramatische Wirkungen ple_173.002
ausgegangen sind, vereinigen beide Arten, zu sehen und zu ple_173.003
bilden, und es ist interessant, wie in ihren verschiedenen Werken, oft ple_173.004
aber auch innerhalb derselben Dichtung in verschiedenen Szenen, bald ple_173.005
die Bühne, bald die Wirklichkeit herrscht. Es wäre verlockend, das Gesagte ple_173.006
an Shakespeare und Schiller, an Kleist und Hebbel zu veranschaulichen, ple_173.007
aber es würde zu weit von dem Gang unserer Betrachtungen abführen. ple_173.008
Nur auf Grillparzer will ich kurz hinweisen, weil sein Beispiel ple_173.009
besonders belehrend ist. Er beginnt in der Ahnfrau mit einem echten ple_173.010
Theaterstück, das ganz und gar von Bühnenphantasie beherrscht und getragen ple_173.011
wird, um in seinen letzten Tragödien besonders dem Bruderzwist ple_173.012
und der Libussa die Fühlung mit der Bühne mehr und mehr zu verlieren: ple_173.013
geschichtliche Bilder und die Versenkung in inneres Leben erfüllen diese ple_173.014
Dichtungen faßt ausschließlich. Die Werke seiner Glanzzeit jedoch, von ple_173.015
„Sappho“ bis „Weh dem, der lügt“, zeigen fast alle eine ausgeglichene ple_173.016
Verschmelzung von Bühne und Leben.
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Es ist begreiflich, daß Dramen, die für die Bühne gedacht sind, bei ple_173.018
der Lektüre nicht völlig anschaulich werden können, wenn der Leser nicht ple_173.019
beständig das Theater vor seinem geistigen Auge sieht. Dies aber ist im ple_173.020
allgemeinen dem, der nicht Theaterpraktiker ist, schwer genug; daher man ple_173.021
aus der bloßen Lektüre fast niemals zum völligen Verständnis etwa Shakespeares ple_173.022
oder Ibsens gelangt und bei der Aufführung stets von einer Reihe ple_173.023
von Zügen überrascht wird, die uns beim Lesen entgangen sind. Selbst ple_173.024
die sehr ausführlichen Bühnenanweisungen, welche die meisten modernen ple_173.025
Dichter ihren gedruckten Dramen mitzugeben pflegen, sind nur ein kümmerliches ple_173.026
Mittel, um die Bühnenphantasie des Lesers anzuregen. —
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Das bisher dargelegte Verhältnis zwischen Bühne und Dichtung erklärt ple_173.028
nun eine weitere wichtige Erscheinung, die Tatsache nämlich, daß ple_173.029
dramatisch gedachte Vorgänge unter Umständen auf der Bühne unwirksam ple_173.030
bleiben, andrerseits aber manche Dichtungen im Theater Eindruck machen, ple_173.031
die ihrem inneren Wesen nach gar kein dramatisches Leben enthalten. ple_173.032
Die moderne Bühnenkunst zumal, die mit allen malerischen Effekten ple_173.033
ebensowohl wie mit den musikalischen zu rechnen weiß, vermag mit ple_173.034
ihren Mitteln ebensowohl einer lyrischen Stimmung zu Hilfe zu kommen ple_173.035
wie der spezifisch dramatischen Wirkung. Auf die innere Verwandtschaft ple_173.036
zwischen Lyrik und Drama hat schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen. ple_173.037
Beide kommen darin zusammen, daß sie innere Zustände darstellen ple_173.038
und lebendig machen; nur daß die Lyrik bei dem einzelnen verweilt, ple_173.039
ihn nach Seite des Gefühls und der Stimmung ausschöpft, während ple_173.040
das Drama in schneller Entwicklung von einem zum anderen hinüberstrebt ple_173.041
und den Zuschauer mitreißt. Daher hat denn die dramatische ple_173.042
Dichtung aller Zeiten lyrische Momente aufgenommen, Stellen, wo der ple_173.043
Zuschauer längere oder kürzere Zeit verweilen, für eine kurze Zeit zu
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