Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_170.001 ple_170.008 ple_170.001 ple_170.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0184" n="170"/><lb n="ple_170.001"/> Vermittlung durch den Vortrag des Sängers oder des Rezitators vor. Aber <lb n="ple_170.002"/> seine Dichtung wahrt doch eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit. <lb n="ple_170.003"/> Sie hat ein inneres Leben, das auch vom Papier her ohne weiteres <lb n="ple_170.004"/> zu uns spricht und verständlich wird. Das Drama aber, soweit es Bühnenstück <lb n="ple_170.005"/> ist, wird erst durch den Regisseur und den Schauspieler lebendig, <lb n="ple_170.006"/> ähnlich wie eine Orchesterpartitur dem Nichtmusiker nur durch die Aufführung <lb n="ple_170.007"/> vermittelt werden kann.</p> <p><lb n="ple_170.008"/> Die Phantasie des gegenständlichen Dichters kann daher zweierlei <lb n="ple_170.009"/> Art sein: entweder sie zeigt ihm die Vorgänge so oder doch annähernd so, <lb n="ple_170.010"/> wie sie sich im Leben, in der Wirklichkeit darstellen, oder sie richtet sich <lb n="ple_170.011"/> von vornherein auf das Theater, er sieht Bühnengestalten und Bühnenvorgänge. <lb n="ple_170.012"/> Die erste Art zu sehen, ist nämlich nicht etwa nur dem Epiker <lb n="ple_170.013"/> eigentümlich, sondern sie gehört dem gegenständlichen Dichter überhaupt, <lb n="ple_170.014"/> auch dem Dramatiker, soweit er eben nur Dichter ist, d. h. Phantasieerlebnisse <lb n="ple_170.015"/> gestaltet und übermittelt. Auch der Dramatiker muß, wenn er <lb n="ple_170.016"/> wirkliches Leben schaffen und uns wahre Menschen und ihre Taten lebendig <lb n="ple_170.017"/> machen will, Taten und Menschen unmittelbar sehen und erleben. Allein <lb n="ple_170.018"/> nun verschmelzen auf eigentümliche Weise in seiner Phantasie die Bilder <lb n="ple_170.019"/> des Lebens mit denen der Bühne, die seiner Menschen mit denen der <lb n="ple_170.020"/> Schauspieler. Wo diese Verschmelzung nicht eintritt, werden wir immer nur <lb n="ple_170.021"/> einen einseitigen und daher unvollkommenen Typus des Dramas vor uns <lb n="ple_170.022"/> haben, und dementsprechend wird auch der Eindruck hinter dem Höchsten, <lb n="ple_170.023"/> was die dramatische Kunst erreichen kann, zurückbleiben. Wenn der Dichter <lb n="ple_170.024"/> die Bühne und ihre Anforderungen gänzlich aus dem Auge verliert, wird <lb n="ple_170.025"/> sich das nicht nur bei der Aufführung seiner Stücke, nicht nur in einem <lb n="ple_170.026"/> Mangel an Bühnenwirkung rächen, sondern zumeist auch schon den dramatischen <lb n="ple_170.027"/> Charakter seiner Dichtung an sich schwächen und schädigen. <lb n="ple_170.028"/> Wo die Bühnenkunst uneingeschränkt waltet, da werden tiefe und echte <lb n="ple_170.029"/> dichterische Wirkungen selten zum Durchbruch kommen. Es ist denkbar <lb n="ple_170.030"/> und neuere Forschungen machen es nicht unwahrscheinlich, daß in dieser <lb n="ple_170.031"/> Doppelheit der Anlage der Dichter und ihrer Werke sich eine Ursprungsverschiedenheit <lb n="ple_170.032"/> der dramatischen Kunst ausspricht. Das Theaterspiel selbst <lb n="ple_170.033"/> ist, soviel wir wissen, überall aus der Lust an improvisierten Nachahmungen <lb n="ple_170.034"/> von Personen und Handlungen, an Verkleidungen und Vermummung, kurz <lb n="ple_170.035"/> aus der eigentlichen Lust am Spiel hervorgegangen, und ein Theaterstück <lb n="ple_170.036"/> war ursprünglich keine Dichtung im literarischen Sinne, sondern das Werk <lb n="ple_170.037"/> des Augenblicks oder einer Tradition, die mit und in den Aufführungen <lb n="ple_170.038"/> entstand. Die Kunstform der dramatischen Dichtung dagegen entstand aus <lb n="ple_170.039"/> der Freude an Rede und Gegenrede, die zu lebhaften Affekten gesteigerte <lb n="ple_170.040"/> mimische Aktionen hervortrieben. Die Geschichte des Theaters, zunächst <lb n="ple_170.041"/> des antiken, soweit wir sie verfolgen können, scheint das zu bestätigen. <lb n="ple_170.042"/> Einerseits sehen wir die Tragödie hohen Stils sich zur edelsten Kunstform <lb n="ple_170.043"/> entwickeln, andrerseits zieht sich das volkstümliche Spiel des Mimus durch </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [170/0184]
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Vermittlung durch den Vortrag des Sängers oder des Rezitators vor. Aber ple_170.002
seine Dichtung wahrt doch eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit. ple_170.003
Sie hat ein inneres Leben, das auch vom Papier her ohne weiteres ple_170.004
zu uns spricht und verständlich wird. Das Drama aber, soweit es Bühnenstück ple_170.005
ist, wird erst durch den Regisseur und den Schauspieler lebendig, ple_170.006
ähnlich wie eine Orchesterpartitur dem Nichtmusiker nur durch die Aufführung ple_170.007
vermittelt werden kann.
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Die Phantasie des gegenständlichen Dichters kann daher zweierlei ple_170.009
Art sein: entweder sie zeigt ihm die Vorgänge so oder doch annähernd so, ple_170.010
wie sie sich im Leben, in der Wirklichkeit darstellen, oder sie richtet sich ple_170.011
von vornherein auf das Theater, er sieht Bühnengestalten und Bühnenvorgänge. ple_170.012
Die erste Art zu sehen, ist nämlich nicht etwa nur dem Epiker ple_170.013
eigentümlich, sondern sie gehört dem gegenständlichen Dichter überhaupt, ple_170.014
auch dem Dramatiker, soweit er eben nur Dichter ist, d. h. Phantasieerlebnisse ple_170.015
gestaltet und übermittelt. Auch der Dramatiker muß, wenn er ple_170.016
wirkliches Leben schaffen und uns wahre Menschen und ihre Taten lebendig ple_170.017
machen will, Taten und Menschen unmittelbar sehen und erleben. Allein ple_170.018
nun verschmelzen auf eigentümliche Weise in seiner Phantasie die Bilder ple_170.019
des Lebens mit denen der Bühne, die seiner Menschen mit denen der ple_170.020
Schauspieler. Wo diese Verschmelzung nicht eintritt, werden wir immer nur ple_170.021
einen einseitigen und daher unvollkommenen Typus des Dramas vor uns ple_170.022
haben, und dementsprechend wird auch der Eindruck hinter dem Höchsten, ple_170.023
was die dramatische Kunst erreichen kann, zurückbleiben. Wenn der Dichter ple_170.024
die Bühne und ihre Anforderungen gänzlich aus dem Auge verliert, wird ple_170.025
sich das nicht nur bei der Aufführung seiner Stücke, nicht nur in einem ple_170.026
Mangel an Bühnenwirkung rächen, sondern zumeist auch schon den dramatischen ple_170.027
Charakter seiner Dichtung an sich schwächen und schädigen. ple_170.028
Wo die Bühnenkunst uneingeschränkt waltet, da werden tiefe und echte ple_170.029
dichterische Wirkungen selten zum Durchbruch kommen. Es ist denkbar ple_170.030
und neuere Forschungen machen es nicht unwahrscheinlich, daß in dieser ple_170.031
Doppelheit der Anlage der Dichter und ihrer Werke sich eine Ursprungsverschiedenheit ple_170.032
der dramatischen Kunst ausspricht. Das Theaterspiel selbst ple_170.033
ist, soviel wir wissen, überall aus der Lust an improvisierten Nachahmungen ple_170.034
von Personen und Handlungen, an Verkleidungen und Vermummung, kurz ple_170.035
aus der eigentlichen Lust am Spiel hervorgegangen, und ein Theaterstück ple_170.036
war ursprünglich keine Dichtung im literarischen Sinne, sondern das Werk ple_170.037
des Augenblicks oder einer Tradition, die mit und in den Aufführungen ple_170.038
entstand. Die Kunstform der dramatischen Dichtung dagegen entstand aus ple_170.039
der Freude an Rede und Gegenrede, die zu lebhaften Affekten gesteigerte ple_170.040
mimische Aktionen hervortrieben. Die Geschichte des Theaters, zunächst ple_170.041
des antiken, soweit wir sie verfolgen können, scheint das zu bestätigen. ple_170.042
Einerseits sehen wir die Tragödie hohen Stils sich zur edelsten Kunstform ple_170.043
entwickeln, andrerseits zieht sich das volkstümliche Spiel des Mimus durch
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