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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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sprachliche Wendung eines großen Dramas in sich das Wesen der dramatischen ple_166.002
Idee: den tragischen Widerspruch notwendig zueinander strebender ple_166.003
Mächte. -- Der kleinste Teil des Kunstwerks endlich, der einzelne Satz, ple_166.004
das Wort, das keine Zweiheit mehr zu umspannen vermag, wird dem ple_166.005
Prinzip der Zweistimmigkeit, der großen Kontrastwirkung noch immer ple_166.006
dadurch dienen, daß es die eine Seite, an der es allein zu bilden vermag, ple_166.007
mit leidenschaftlichster Energie, mit fanatisch konzentrierter Einseitigkeit ple_166.008
ausdrückt -- gerade so die größte Wirkung des Widerspruchs verbreitend. ple_166.009
Auf die Schärfe und Kraft des Ausdrucks legt dann der echte Dramatiker ple_166.010
allen Wert, nicht auf das in sich Schöne oder logisch Zwingende der ple_166.011
Sprachwendung."

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Aber ein charakteristischer Dialog oder eine Reihe von solchen ist ple_166.013
noch kein Drama. Erst wo sich der Charakter der Personen und ihr ple_166.014
Gegensatz in Entschlüssen und Handlungen entwickelt, wird er ganz anschaulich ple_166.015
und reißt uns zu völligem Miterleben hin. Daher bezeichnet ple_166.016
schon der Name Drama eine Handlung, und nur im aktiven Tun, nicht ple_166.017
im passiven Erleben, wie häufig im Epos, wird der Held des Dramas ple_166.018
vor uns lebendig. Im Epos, im Roman kann das Ereignis, ja unter Umständen ple_166.019
der Zufall unser Interesse erwecken und beleben. Im Drama hingegen ple_166.020
stört jedes rein äußerliche Eingreifen das, was uns eigentlich ple_166.021
interessiert: den inneren Zusammenhang, der mit Notwendigkeit von bestimmten ple_166.022
Charaktereigenschaften zu entsprechenden Taten und durch die ple_166.023
Folge dieser Taten zu Leiden führt.

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Gegensatz, der sich in Handlungen äußert, ist Kampf. Jedes Drama ple_166.025
also hat einen Kampf innerer und äußerer Art zum Gegenstande. Und ple_166.026
wenn die Entwicklung dieses Kampfes nicht doch wieder als äußerlich und ple_166.027
vom Zufall abhängig (also episch) erscheinen, wenn sie von innerer Notwendigkeit ple_166.028
getragen sein soll, so muß er, wenn nicht zwischen gleichberechtigten, ple_166.029
so doch zwischen gleich lebendigen Gegnern geführt werden. ple_166.030
Wir müssen ihn gewissermaßen auf beiden Seiten miterleben. Daher ist ple_166.031
es nur ein Zeichen echter dramatischer Veranlagung und Kunst, wenn die ple_166.032
meisten Dramen Schillers, was man ihnen gelegentlich zum Vorwurf gemacht ple_166.033
hat, nicht einen sondern zwei im Gegensatz zueinander stehende ple_166.034
Helden haben, und in vielen Dramen der Antike finden wir dieselbe Erscheinung: ple_166.035
Agamemnon--Klytämnestra, Antigone--Kreon u. s. w. Und selbst ple_166.036
da, wo man mit Recht von einem Kampf des Helden gegen die Macht ple_166.037
des Schicksals sprechen kann, erscheint diese Macht durch menschliche ple_166.038
Gegner, wenn nicht verkörpert, so doch vertreten, wie im König Ödipus ple_166.039
durch den Teiresias.

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Vom Gegenstand dieses Kampfes hängt der Charakter der Dichtung ple_166.041
ab. Ist er ernster und idealer Natur, handelt es sich um Tod und Leben, ple_166.042
um die großen Ziele des Daseins, so entsteht die Tragödie, ist er kleiner ple_166.043
oder kleinlicher Art, oder wird er doch von einer Seite gezeigt und betrachtet,

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sprachliche Wendung eines großen Dramas in sich das Wesen der dramatischen ple_166.002
Idee: den tragischen Widerspruch notwendig zueinander strebender ple_166.003
Mächte. — Der kleinste Teil des Kunstwerks endlich, der einzelne Satz, ple_166.004
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allen Wert, nicht auf das in sich Schöne oder logisch Zwingende der ple_166.011
Sprachwendung.“

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Aber ein charakteristischer Dialog oder eine Reihe von solchen ist ple_166.013
noch kein Drama. Erst wo sich der Charakter der Personen und ihr ple_166.014
Gegensatz in Entschlüssen und Handlungen entwickelt, wird er ganz anschaulich ple_166.015
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vor uns lebendig. Im Epos, im Roman kann das Ereignis, ja unter Umständen ple_166.019
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interessiert: den inneren Zusammenhang, der mit Notwendigkeit von bestimmten ple_166.022
Charaktereigenschaften zu entsprechenden Taten und durch die ple_166.023
Folge dieser Taten zu Leiden führt.

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Gegensatz, der sich in Handlungen äußert, ist Kampf. Jedes Drama ple_166.025
also hat einen Kampf innerer und äußerer Art zum Gegenstande. Und ple_166.026
wenn die Entwicklung dieses Kampfes nicht doch wieder als äußerlich und ple_166.027
vom Zufall abhängig (also episch) erscheinen, wenn sie von innerer Notwendigkeit ple_166.028
getragen sein soll, so muß er, wenn nicht zwischen gleichberechtigten, ple_166.029
so doch zwischen gleich lebendigen Gegnern geführt werden. ple_166.030
Wir müssen ihn gewissermaßen auf beiden Seiten miterleben. Daher ist ple_166.031
es nur ein Zeichen echter dramatischer Veranlagung und Kunst, wenn die ple_166.032
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Helden haben, und in vielen Dramen der Antike finden wir dieselbe Erscheinung: ple_166.035
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da, wo man mit Recht von einem Kampf des Helden gegen die Macht ple_166.037
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Gegner, wenn nicht verkörpert, so doch vertreten, wie im König Ödipus ple_166.039
durch den Teiresias.

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ab. Ist er ernster und idealer Natur, handelt es sich um Tod und Leben, ple_166.042
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[166/0180] ple_166.001 sprachliche Wendung eines großen Dramas in sich das Wesen der dramatischen ple_166.002 Idee: den tragischen Widerspruch notwendig zueinander strebender ple_166.003 Mächte. — Der kleinste Teil des Kunstwerks endlich, der einzelne Satz, ple_166.004 das Wort, das keine Zweiheit mehr zu umspannen vermag, wird dem ple_166.005 Prinzip der Zweistimmigkeit, der großen Kontrastwirkung noch immer ple_166.006 dadurch dienen, daß es die eine Seite, an der es allein zu bilden vermag, ple_166.007 mit leidenschaftlichster Energie, mit fanatisch konzentrierter Einseitigkeit ple_166.008 ausdrückt — gerade so die größte Wirkung des Widerspruchs verbreitend. ple_166.009 Auf die Schärfe und Kraft des Ausdrucks legt dann der echte Dramatiker ple_166.010 allen Wert, nicht auf das in sich Schöne oder logisch Zwingende der ple_166.011 Sprachwendung.“ ple_166.012 Aber ein charakteristischer Dialog oder eine Reihe von solchen ist ple_166.013 noch kein Drama. Erst wo sich der Charakter der Personen und ihr ple_166.014 Gegensatz in Entschlüssen und Handlungen entwickelt, wird er ganz anschaulich ple_166.015 und reißt uns zu völligem Miterleben hin. Daher bezeichnet ple_166.016 schon der Name Drama eine Handlung, und nur im aktiven Tun, nicht ple_166.017 im passiven Erleben, wie häufig im Epos, wird der Held des Dramas ple_166.018 vor uns lebendig. Im Epos, im Roman kann das Ereignis, ja unter Umständen ple_166.019 der Zufall unser Interesse erwecken und beleben. Im Drama hingegen ple_166.020 stört jedes rein äußerliche Eingreifen das, was uns eigentlich ple_166.021 interessiert: den inneren Zusammenhang, der mit Notwendigkeit von bestimmten ple_166.022 Charaktereigenschaften zu entsprechenden Taten und durch die ple_166.023 Folge dieser Taten zu Leiden führt. ple_166.024 Gegensatz, der sich in Handlungen äußert, ist Kampf. Jedes Drama ple_166.025 also hat einen Kampf innerer und äußerer Art zum Gegenstande. Und ple_166.026 wenn die Entwicklung dieses Kampfes nicht doch wieder als äußerlich und ple_166.027 vom Zufall abhängig (also episch) erscheinen, wenn sie von innerer Notwendigkeit ple_166.028 getragen sein soll, so muß er, wenn nicht zwischen gleichberechtigten, ple_166.029 so doch zwischen gleich lebendigen Gegnern geführt werden. ple_166.030 Wir müssen ihn gewissermaßen auf beiden Seiten miterleben. Daher ist ple_166.031 es nur ein Zeichen echter dramatischer Veranlagung und Kunst, wenn die ple_166.032 meisten Dramen Schillers, was man ihnen gelegentlich zum Vorwurf gemacht ple_166.033 hat, nicht einen sondern zwei im Gegensatz zueinander stehende ple_166.034 Helden haben, und in vielen Dramen der Antike finden wir dieselbe Erscheinung: ple_166.035 Agamemnon—Klytämnestra, Antigone—Kreon u. s. w. Und selbst ple_166.036 da, wo man mit Recht von einem Kampf des Helden gegen die Macht ple_166.037 des Schicksals sprechen kann, erscheint diese Macht durch menschliche ple_166.038 Gegner, wenn nicht verkörpert, so doch vertreten, wie im König Ödipus ple_166.039 durch den Teiresias. ple_166.040 Vom Gegenstand dieses Kampfes hängt der Charakter der Dichtung ple_166.041 ab. Ist er ernster und idealer Natur, handelt es sich um Tod und Leben, ple_166.042 um die großen Ziele des Daseins, so entsteht die Tragödie, ist er kleiner ple_166.043 oder kleinlicher Art, oder wird er doch von einer Seite gezeigt und betrachtet,

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/180>, abgerufen am 22.11.2024.