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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Bestimmung der Poesie als Nachahmung menschlicher Handlungen ple_004.002
begründet. Noch schärfer prägt sich der technische Gesichtspunkt ple_004.003
aus, wenn im 26. Kapitel der Vorzug der Tragödie vor dem Epos aus der ple_004.004
Steigerung der Kunstmittel bei geringerer zeitlicher Ausdehnung und ple_004.005
strengerer Einheit des Baues nachgewiesen wird. -- Daneben aber tritt ple_004.006
nun die Beobachtung und Analyse der Wirkungen, welche die verschiedenen ple_004.007
Gattungen und Kunstmittel hervorbringen. Und dies wird ebenfalls ple_004.008
zum Wertmesser, insofern allein die richtigen Kunstmittel die Absicht erreichen, ple_004.009
die anderen sie verfehlen müssen. Dies Verfahren wird wiederum ple_004.010
in der berühmten Theorie der Tragödie besonders deutlich. Die beabsichtigte ple_004.011
Wirkung (Furcht, Mitleid und die hierdurch hervorgerufene ple_004.012
Katharsis) wird gleich in die Definition der Gattung mit aufgenommen, ple_004.013
und hieraus wird dann abgeleitet, welcher Art die dargestellten Charaktere, ple_004.014
der Glückswechsel in der Handlung u. s. w. sein müssen, um gerade diese ple_004.015
Wirkung hervorzurufen. Befriedigt etwa ein Vorgang zwar unser Gerechtigkeitsgefühl, ple_004.016
ohne aber Furcht und Mitleid zu erwecken, oder erregt ple_004.017
er gar Empörung, so ist er auf der tragischen Bühne verwerflich.

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Die Form der Aristotelischen Darstellung ist mithin zwar nicht streng ple_004.019
induktiv, da sie zunächst an allgemeine Bestimmungen und Einteilungen ple_004.020
anknüpft; aber gleichwohl verfährt der Philosoph durchaus empirisch. ple_004.021
Nirgends konstruiert er aus Ideen, nirgends versucht er den Kreis der ple_004.022
Erfahrung zu übersteigen; überall hält er sich an die gegebene Wirklichkeit, ple_004.023
denn auch jene allgemeinen Bestimmungen verallgemeinern nur ple_004.024
bestimmte Tatsachen und Erfahrungen. Und dies Erfahrungsmaterial ple_004.025
selbst ist noch in ganz bestimmter Weise mit methodisch festgehaltner ple_004.026
Einseitigkeit abgegrenzt: es umfaßt ausschließlich vorhandene Werke und ple_004.027
erlebte Wirkungen. Die Vorgänge in der schöpferischen Phantasie, die ple_004.028
Entstehung des Kunstwerks in der Seele des Dichters, die Verschiedenheit ple_004.029
der schöpferischen Individualitäten, überhaupt also das Subjekt des ple_004.030
Dichters, berücksichtigt Aristoteles gar nicht oder streift sie doch nur ganz ple_004.031
gelegentlich (wie in Kapitel 17). Das Kunstwerk ist es, worauf es ihm ple_004.032
ankommt, nicht der Künstler. Sein Verfahren ist in diesem Sinne rein ple_004.033
objektiv.

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Die durchweg empirische Grundlegung, die Beschränkung auf sachlich ple_004.035
technische Gesichtspunkte mit Ausschluß jeglicher Ideenkonstruktion, ple_004.036
endlich die rein objektive Behandlung der Dichtungen sind die drei Züge, ple_004.037
welche der Poetik des Aristoteles ihren Charakter aufdrücken. --

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Als sich zwei Jahrtausende später der Klassizismus des 17. und ple_004.039
18. Jahrhunderts seine ästhetische Theorie schuf, da griff er auf Aristoteles ple_004.040
zurück. So zunächst in Frankreich. Schon Scaliger knüpft an den Begriff ple_004.041
der Nachahmung an, Corneille und in Einzelheiten Boileau an die ple_004.042
Theorie der Tragödie. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber ple_004.043
schufen Dubos (Reflexions critiques sur la Poesie, sur la Peinture et la

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Bestimmung der Poesie als Nachahmung menschlicher Handlungen ple_004.002
begründet. Noch schärfer prägt sich der technische Gesichtspunkt ple_004.003
aus, wenn im 26. Kapitel der Vorzug der Tragödie vor dem Epos aus der ple_004.004
Steigerung der Kunstmittel bei geringerer zeitlicher Ausdehnung und ple_004.005
strengerer Einheit des Baues nachgewiesen wird. — Daneben aber tritt ple_004.006
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Gattungen und Kunstmittel hervorbringen. Und dies wird ebenfalls ple_004.008
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die anderen sie verfehlen müssen. Dies Verfahren wird wiederum ple_004.010
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Katharsis) wird gleich in die Definition der Gattung mit aufgenommen, ple_004.013
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ohne aber Furcht und Mitleid zu erwecken, oder erregt ple_004.017
er gar Empörung, so ist er auf der tragischen Bühne verwerflich.

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Die Form der Aristotelischen Darstellung ist mithin zwar nicht streng ple_004.019
induktiv, da sie zunächst an allgemeine Bestimmungen und Einteilungen ple_004.020
anknüpft; aber gleichwohl verfährt der Philosoph durchaus empirisch. ple_004.021
Nirgends konstruiert er aus Ideen, nirgends versucht er den Kreis der ple_004.022
Erfahrung zu übersteigen; überall hält er sich an die gegebene Wirklichkeit, ple_004.023
denn auch jene allgemeinen Bestimmungen verallgemeinern nur ple_004.024
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selbst ist noch in ganz bestimmter Weise mit methodisch festgehaltner ple_004.026
Einseitigkeit abgegrenzt: es umfaßt ausschließlich vorhandene Werke und ple_004.027
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Entstehung des Kunstwerks in der Seele des Dichters, die Verschiedenheit ple_004.029
der schöpferischen Individualitäten, überhaupt also das Subjekt des ple_004.030
Dichters, berücksichtigt Aristoteles gar nicht oder streift sie doch nur ganz ple_004.031
gelegentlich (wie in Kapitel 17). Das Kunstwerk ist es, worauf es ihm ple_004.032
ankommt, nicht der Künstler. Sein Verfahren ist in diesem Sinne rein ple_004.033
objektiv.

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Die durchweg empirische Grundlegung, die Beschränkung auf sachlich ple_004.035
technische Gesichtspunkte mit Ausschluß jeglicher Ideenkonstruktion, ple_004.036
endlich die rein objektive Behandlung der Dichtungen sind die drei Züge, ple_004.037
welche der Poetik des Aristoteles ihren Charakter aufdrücken. —

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Als sich zwei Jahrtausende später der Klassizismus des 17. und ple_004.039
18. Jahrhunderts seine ästhetische Theorie schuf, da griff er auf Aristoteles ple_004.040
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[4/0018] ple_004.001 Bestimmung der Poesie als Nachahmung menschlicher Handlungen ple_004.002 begründet. Noch schärfer prägt sich der technische Gesichtspunkt ple_004.003 aus, wenn im 26. Kapitel der Vorzug der Tragödie vor dem Epos aus der ple_004.004 Steigerung der Kunstmittel bei geringerer zeitlicher Ausdehnung und ple_004.005 strengerer Einheit des Baues nachgewiesen wird. — Daneben aber tritt ple_004.006 nun die Beobachtung und Analyse der Wirkungen, welche die verschiedenen ple_004.007 Gattungen und Kunstmittel hervorbringen. Und dies wird ebenfalls ple_004.008 zum Wertmesser, insofern allein die richtigen Kunstmittel die Absicht erreichen, ple_004.009 die anderen sie verfehlen müssen. Dies Verfahren wird wiederum ple_004.010 in der berühmten Theorie der Tragödie besonders deutlich. Die beabsichtigte ple_004.011 Wirkung (Furcht, Mitleid und die hierdurch hervorgerufene ple_004.012 Katharsis) wird gleich in die Definition der Gattung mit aufgenommen, ple_004.013 und hieraus wird dann abgeleitet, welcher Art die dargestellten Charaktere, ple_004.014 der Glückswechsel in der Handlung u. s. w. sein müssen, um gerade diese ple_004.015 Wirkung hervorzurufen. Befriedigt etwa ein Vorgang zwar unser Gerechtigkeitsgefühl, ple_004.016 ohne aber Furcht und Mitleid zu erwecken, oder erregt ple_004.017 er gar Empörung, so ist er auf der tragischen Bühne verwerflich. ple_004.018 Die Form der Aristotelischen Darstellung ist mithin zwar nicht streng ple_004.019 induktiv, da sie zunächst an allgemeine Bestimmungen und Einteilungen ple_004.020 anknüpft; aber gleichwohl verfährt der Philosoph durchaus empirisch. ple_004.021 Nirgends konstruiert er aus Ideen, nirgends versucht er den Kreis der ple_004.022 Erfahrung zu übersteigen; überall hält er sich an die gegebene Wirklichkeit, ple_004.023 denn auch jene allgemeinen Bestimmungen verallgemeinern nur ple_004.024 bestimmte Tatsachen und Erfahrungen. Und dies Erfahrungsmaterial ple_004.025 selbst ist noch in ganz bestimmter Weise mit methodisch festgehaltner ple_004.026 Einseitigkeit abgegrenzt: es umfaßt ausschließlich vorhandene Werke und ple_004.027 erlebte Wirkungen. Die Vorgänge in der schöpferischen Phantasie, die ple_004.028 Entstehung des Kunstwerks in der Seele des Dichters, die Verschiedenheit ple_004.029 der schöpferischen Individualitäten, überhaupt also das Subjekt des ple_004.030 Dichters, berücksichtigt Aristoteles gar nicht oder streift sie doch nur ganz ple_004.031 gelegentlich (wie in Kapitel 17). Das Kunstwerk ist es, worauf es ihm ple_004.032 ankommt, nicht der Künstler. Sein Verfahren ist in diesem Sinne rein ple_004.033 objektiv. ple_004.034 Die durchweg empirische Grundlegung, die Beschränkung auf sachlich ple_004.035 technische Gesichtspunkte mit Ausschluß jeglicher Ideenkonstruktion, ple_004.036 endlich die rein objektive Behandlung der Dichtungen sind die drei Züge, ple_004.037 welche der Poetik des Aristoteles ihren Charakter aufdrücken. — ple_004.038 Als sich zwei Jahrtausende später der Klassizismus des 17. und ple_004.039 18. Jahrhunderts seine ästhetische Theorie schuf, da griff er auf Aristoteles ple_004.040 zurück. So zunächst in Frankreich. Schon Scaliger knüpft an den Begriff ple_004.041 der Nachahmung an, Corneille und in Einzelheiten Boileau an die ple_004.042 Theorie der Tragödie. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber ple_004.043 schufen Dubos (Réflexions critiques sur la Poésie, sur la Peinture et la

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/18>, abgerufen am 21.11.2024.