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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle ple_163.002
und Ereignisse, sondern eigenartige und problematische Vorgänge des ple_163.003
inneren Lebens sind es, die unseren bedeutenden Novellisten zum Vorwurf ple_163.004
dienen. Dabei ist die eigentliche Entwicklung des Charakters ausgeschlossen; ple_163.005
sie gehört dem Roman an. Vielmehr kommt der fertige ple_163.006
Charakter in einer Tat, einem entscheidenden Ereignis zum Ausdruck, und ple_163.007
eben dieses Verhältnis bildet den Inhalt der Novelle. Sehr gut führt ple_163.008
dies Mielcke aus (a. a. O. S. 354): "Von dem alten Novellenstil hat die ple_163.009
moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit ple_163.010
auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht ple_163.011
bloß und sie hüllt sie nicht allein in Stimmungsfarben. Das Seltsame der ple_163.012
Tat setzt auch in den Charakteren ein Seltsames der Empfindung oder des ple_163.013
Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund ple_163.014
gern als etwas Mystisches an und erzielten dadurch oft bedeutende Wirkungen. ple_163.015
Die moderne Psychologie geht dem Mystischen nicht aus dem ple_163.016
Wege, aber sie sucht es dafür natürlich zu deuten, den dunklen Kern der ple_163.017
Seele gleichsam in seine einzelnen Elemente aufzulösen, und die moderne ple_163.018
Novelle schloß sich ihr hierin an. Dadurch gewann sie den Hang zum ple_163.019
Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen ple_163.020
Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte ple_163.021
Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden."

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Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten. ple_163.023
Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten ple_163.024
Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend ple_163.025
zu schildern, sie kann es nur andeuten. Sie kann nur, wie Mielcke ple_163.026
(S. 353) sagt, "durch starke Betonung des einzelnen ersetzen, was er ple_163.027
an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung ple_163.028
entsteht jener schwingende Zauber des Details, den wir Stimmung nennen. ple_163.029
Die Gegenstände klingen in der Novelle, und ihr Klang durchzittert die ple_163.030
Ereignisse, er dämpft oder erhöht ihre Wirkung, er vermählt sich mit dem ple_163.031
seelischen Leben der Charaktere." Wie richtig dies ist, erkennen wir an ple_163.032
vielen der Meisternovellen Heyses und Storms. So ist die Arrabiata ganz ple_163.033
von dem Gluthauch südlicher, die Erzählung "Am toten See" ganz von ple_163.034
der stillen und innigen Melancholie nordischer Landschaft durchzittert, und ple_163.035
in "der Stickerin von Treviso" atmet der Geist der Frührenaissance. Ist ple_163.036
das Milieu ein phantastisches oder ein in großen Zügen gezeichnetes geschichtliches ple_163.037
Gemälde, so nähert sich die Novelle bisweilen dem Balladencharakter, ple_163.038
besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms: ple_163.039
so in Eekenhof und Aquis submersus.

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14. Dramatische Dichtung.

In den Weihnachtstagen 1797 antwortete ple_163.041
Schiller an Goethe auf die Übersendung des Aufsatzes, dessen Hauptstellen ple_163.042
wir zu Anfang des vorigen Kapitels kennen gelernt haben: "Daß der ple_163.043
Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die

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Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle ple_163.002
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moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit ple_163.010
auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht ple_163.011
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Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund ple_163.014
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Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen ple_163.020
Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte ple_163.021
Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden.“

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Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten. ple_163.023
Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten ple_163.024
Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend ple_163.025
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an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung ple_163.028
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besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms: ple_163.039
so in Eekenhof und Aquis submersus.

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14. Dramatische Dichtung.

In den Weihnachtstagen 1797 antwortete ple_163.041
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[163/0177] ple_163.001 Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle ple_163.002 und Ereignisse, sondern eigenartige und problematische Vorgänge des ple_163.003 inneren Lebens sind es, die unseren bedeutenden Novellisten zum Vorwurf ple_163.004 dienen. Dabei ist die eigentliche Entwicklung des Charakters ausgeschlossen; ple_163.005 sie gehört dem Roman an. Vielmehr kommt der fertige ple_163.006 Charakter in einer Tat, einem entscheidenden Ereignis zum Ausdruck, und ple_163.007 eben dieses Verhältnis bildet den Inhalt der Novelle. Sehr gut führt ple_163.008 dies Mielcke aus (a. a. O. S. 354): „Von dem alten Novellenstil hat die ple_163.009 moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit ple_163.010 auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht ple_163.011 bloß und sie hüllt sie nicht allein in Stimmungsfarben. Das Seltsame der ple_163.012 Tat setzt auch in den Charakteren ein Seltsames der Empfindung oder des ple_163.013 Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund ple_163.014 gern als etwas Mystisches an und erzielten dadurch oft bedeutende Wirkungen. ple_163.015 Die moderne Psychologie geht dem Mystischen nicht aus dem ple_163.016 Wege, aber sie sucht es dafür natürlich zu deuten, den dunklen Kern der ple_163.017 Seele gleichsam in seine einzelnen Elemente aufzulösen, und die moderne ple_163.018 Novelle schloß sich ihr hierin an. Dadurch gewann sie den Hang zum ple_163.019 Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen ple_163.020 Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte ple_163.021 Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden.“ ple_163.022 Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten. ple_163.023 Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten ple_163.024 Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend ple_163.025 zu schildern, sie kann es nur andeuten. Sie kann nur, wie Mielcke ple_163.026 (S. 353) sagt, „durch starke Betonung des einzelnen ersetzen, was er ple_163.027 an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung ple_163.028 entsteht jener schwingende Zauber des Details, den wir Stimmung nennen. ple_163.029 Die Gegenstände klingen in der Novelle, und ihr Klang durchzittert die ple_163.030 Ereignisse, er dämpft oder erhöht ihre Wirkung, er vermählt sich mit dem ple_163.031 seelischen Leben der Charaktere.“ Wie richtig dies ist, erkennen wir an ple_163.032 vielen der Meisternovellen Heyses und Storms. So ist die Arrabiata ganz ple_163.033 von dem Gluthauch südlicher, die Erzählung „Am toten See“ ganz von ple_163.034 der stillen und innigen Melancholie nordischer Landschaft durchzittert, und ple_163.035 in „der Stickerin von Treviso“ atmet der Geist der Frührenaissance. Ist ple_163.036 das Milieu ein phantastisches oder ein in großen Zügen gezeichnetes geschichtliches ple_163.037 Gemälde, so nähert sich die Novelle bisweilen dem Balladencharakter, ple_163.038 besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms: ple_163.039 so in Eekenhof und Aquis submersus. ple_163.040 14. Dramatische Dichtung. In den Weihnachtstagen 1797 antwortete ple_163.041 Schiller an Goethe auf die Übersendung des Aufsatzes, dessen Hauptstellen ple_163.042 wir zu Anfang des vorigen Kapitels kennen gelernt haben: „Daß der ple_163.043 Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/177>, abgerufen am 22.11.2024.