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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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wir die Wirkungsarten bezeichnen, welche die beiden Dichtungsformen ple_150.002
anstreben.

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Jetzt erst wird das sachlich Berechtigte völlig klar, das in dem Humboldtschen ple_150.004
Begriff der Beschauung steckt. Der Erzählung gegenüber ple_150.005
behält der Hörer eine gewisse Ruhe. Mag er auch hingerissen werden, ple_150.006
er geht niemals so völlig in den einzelnen dargestellten Momenten auf ple_150.007
wie der Zuschauer vor der Bühne, und jedenfalls bleibt ihm stets die ple_150.008
Möglichkeit, nicht nur zu schauen, sondern auch zu überschauen, ple_150.009
d. h. das Bild, das der Erzähler entrollt, nach seinen Hauptmomenten ple_150.010
und in seinem ganzen Umfang zu überblicken. Das ist es, was Schiller ple_150.011
ungemein scharf und richtig in dem oben angeführten Satze zum Ausdruck ple_150.012
bringt. Diesem Bedürfnis ist der epische Dichter genötigt entgegenzukommen. ple_150.013
Seine Kunst muß in der Tat eine besondere Art von ple_150.014
Totalität anstreben, freilich keineswegs eine Universalität der Ausdehnung ple_150.015
nach, wie sie Humboldt und Schlegel vorschwebte, wohl aber eine umfassende ple_150.016
Berücksichtigung der Momente, die für die Anschauung wie für ple_150.017
das Verständnis in Betracht kommen. Diese Momente nun sind zweierlei ple_150.018
Art: äußere Ereignisse und innere Vorgänge. Sinnliche und psychologische ple_150.019
Anschaulichkeit müssen sich vereinigen, um die Forderung der Gegenständlichkeit ple_150.020
im ganzen Umfang zu erfüllen. Treffend kennzeichnet Humboldt ple_150.021
(a. a. O. S. 214 f.) diese Grundeigenschaft der epischen Kunst: "Die ple_150.022
Gedanken und Empfindungen, welche sie schildert, sind nur die Seele ple_150.023
der Gestalten, dienen nur, ihnen Leben und Sprache einzuhauchen. ple_150.024
Indem wir aber nur diesen Gestalten zuzusehen glauben und überall Bewegung ple_150.025
und Umrisse vor uns erblicken, werden wir dennoch eigentlich ple_150.026
nur von ihrem innern geistigen Wesen gerührt. Jene Gestalten scheinen ple_150.027
uns jetzt nur der zartgebildete Körper der Seele, die so lebendig aus ple_150.028
ihnen hervorstrahlt." Dieses eigentümliche zugleich von außen und von ple_150.029
innen Sehen ist ein entscheidender Charakterzug für die epische Poesie. ple_150.030
Der Blick umfaßt zugleich eine sich drängende Menge äußerer und innerer ple_150.031
Züge. Schon aus diesem Grunde wird die epische Darstellung zu einer ple_150.032
gewissen Fülle neigen, sie wird, mit dem Drama verglichen, langsam vorwärts ple_150.033
gehen, bei wichtigern äußeren wie inneren Momenten zu verweilen ple_150.034
geneigt sein.

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Nun aber werden sowohl äußere wie innere Vorgänge erst dann ple_150.036
völlig verständlich, wenn wir sie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang ple_150.037
mit der sie umgebenden Welt sehen können. Und genau so viel von ple_150.038
dieser Welt wird uns der Epiker zeigen müssen, wie es nötig ist, jenen ple_150.039
Zusammenhang zu verstehen. Hierzu bedarf es im allgemeinen keineswegs ple_150.040
einer Totalansicht der Natur oder der Menschheit, wohl aber eines dem ple_150.041
Zweck entsprechend begrenzten Ausschnitts aus beiden. Eben dieser Ausschnitt ple_150.042
ist es, den wir uns seit einigen Jahrzehnten gewöhnt haben als ple_150.043
Milieu oder Umwelt zu bezeichnen -- ein neues Wort für eine Sache,

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wir die Wirkungsarten bezeichnen, welche die beiden Dichtungsformen ple_150.002
anstreben.

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Jetzt erst wird das sachlich Berechtigte völlig klar, das in dem Humboldtschen ple_150.004
Begriff der Beschauung steckt. Der Erzählung gegenüber ple_150.005
behält der Hörer eine gewisse Ruhe. Mag er auch hingerissen werden, ple_150.006
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wie der Zuschauer vor der Bühne, und jedenfalls bleibt ihm stets die ple_150.008
Möglichkeit, nicht nur zu schauen, sondern auch zu überschauen, ple_150.009
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und in seinem ganzen Umfang zu überblicken. Das ist es, was Schiller ple_150.011
ungemein scharf und richtig in dem oben angeführten Satze zum Ausdruck ple_150.012
bringt. Diesem Bedürfnis ist der epische Dichter genötigt entgegenzukommen. ple_150.013
Seine Kunst muß in der Tat eine besondere Art von ple_150.014
Totalität anstreben, freilich keineswegs eine Universalität der Ausdehnung ple_150.015
nach, wie sie Humboldt und Schlegel vorschwebte, wohl aber eine umfassende ple_150.016
Berücksichtigung der Momente, die für die Anschauung wie für ple_150.017
das Verständnis in Betracht kommen. Diese Momente nun sind zweierlei ple_150.018
Art: äußere Ereignisse und innere Vorgänge. Sinnliche und psychologische ple_150.019
Anschaulichkeit müssen sich vereinigen, um die Forderung der Gegenständlichkeit ple_150.020
im ganzen Umfang zu erfüllen. Treffend kennzeichnet Humboldt ple_150.021
(a. a. O. S. 214 f.) diese Grundeigenschaft der epischen Kunst: „Die ple_150.022
Gedanken und Empfindungen, welche sie schildert, sind nur die Seele ple_150.023
der Gestalten, dienen nur, ihnen Leben und Sprache einzuhauchen. ple_150.024
Indem wir aber nur diesen Gestalten zuzusehen glauben und überall Bewegung ple_150.025
und Umrisse vor uns erblicken, werden wir dennoch eigentlich ple_150.026
nur von ihrem innern geistigen Wesen gerührt. Jene Gestalten scheinen ple_150.027
uns jetzt nur der zartgebildete Körper der Seele, die so lebendig aus ple_150.028
ihnen hervorstrahlt.“ Dieses eigentümliche zugleich von außen und von ple_150.029
innen Sehen ist ein entscheidender Charakterzug für die epische Poesie. ple_150.030
Der Blick umfaßt zugleich eine sich drängende Menge äußerer und innerer ple_150.031
Züge. Schon aus diesem Grunde wird die epische Darstellung zu einer ple_150.032
gewissen Fülle neigen, sie wird, mit dem Drama verglichen, langsam vorwärts ple_150.033
gehen, bei wichtigern äußeren wie inneren Momenten zu verweilen ple_150.034
geneigt sein.

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Nun aber werden sowohl äußere wie innere Vorgänge erst dann ple_150.036
völlig verständlich, wenn wir sie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang ple_150.037
mit der sie umgebenden Welt sehen können. Und genau so viel von ple_150.038
dieser Welt wird uns der Epiker zeigen müssen, wie es nötig ist, jenen ple_150.039
Zusammenhang zu verstehen. Hierzu bedarf es im allgemeinen keineswegs ple_150.040
einer Totalansicht der Natur oder der Menschheit, wohl aber eines dem ple_150.041
Zweck entsprechend begrenzten Ausschnitts aus beiden. Eben dieser Ausschnitt ple_150.042
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[150/0164] ple_150.001 wir die Wirkungsarten bezeichnen, welche die beiden Dichtungsformen ple_150.002 anstreben. ple_150.003 Jetzt erst wird das sachlich Berechtigte völlig klar, das in dem Humboldtschen ple_150.004 Begriff der Beschauung steckt. Der Erzählung gegenüber ple_150.005 behält der Hörer eine gewisse Ruhe. Mag er auch hingerissen werden, ple_150.006 er geht niemals so völlig in den einzelnen dargestellten Momenten auf ple_150.007 wie der Zuschauer vor der Bühne, und jedenfalls bleibt ihm stets die ple_150.008 Möglichkeit, nicht nur zu schauen, sondern auch zu überschauen, ple_150.009 d. h. das Bild, das der Erzähler entrollt, nach seinen Hauptmomenten ple_150.010 und in seinem ganzen Umfang zu überblicken. Das ist es, was Schiller ple_150.011 ungemein scharf und richtig in dem oben angeführten Satze zum Ausdruck ple_150.012 bringt. Diesem Bedürfnis ist der epische Dichter genötigt entgegenzukommen. ple_150.013 Seine Kunst muß in der Tat eine besondere Art von ple_150.014 Totalität anstreben, freilich keineswegs eine Universalität der Ausdehnung ple_150.015 nach, wie sie Humboldt und Schlegel vorschwebte, wohl aber eine umfassende ple_150.016 Berücksichtigung der Momente, die für die Anschauung wie für ple_150.017 das Verständnis in Betracht kommen. Diese Momente nun sind zweierlei ple_150.018 Art: äußere Ereignisse und innere Vorgänge. Sinnliche und psychologische ple_150.019 Anschaulichkeit müssen sich vereinigen, um die Forderung der Gegenständlichkeit ple_150.020 im ganzen Umfang zu erfüllen. Treffend kennzeichnet Humboldt ple_150.021 (a. a. O. S. 214 f.) diese Grundeigenschaft der epischen Kunst: „Die ple_150.022 Gedanken und Empfindungen, welche sie schildert, sind nur die Seele ple_150.023 der Gestalten, dienen nur, ihnen Leben und Sprache einzuhauchen. ple_150.024 Indem wir aber nur diesen Gestalten zuzusehen glauben und überall Bewegung ple_150.025 und Umrisse vor uns erblicken, werden wir dennoch eigentlich ple_150.026 nur von ihrem innern geistigen Wesen gerührt. Jene Gestalten scheinen ple_150.027 uns jetzt nur der zartgebildete Körper der Seele, die so lebendig aus ple_150.028 ihnen hervorstrahlt.“ Dieses eigentümliche zugleich von außen und von ple_150.029 innen Sehen ist ein entscheidender Charakterzug für die epische Poesie. ple_150.030 Der Blick umfaßt zugleich eine sich drängende Menge äußerer und innerer ple_150.031 Züge. Schon aus diesem Grunde wird die epische Darstellung zu einer ple_150.032 gewissen Fülle neigen, sie wird, mit dem Drama verglichen, langsam vorwärts ple_150.033 gehen, bei wichtigern äußeren wie inneren Momenten zu verweilen ple_150.034 geneigt sein. ple_150.035 Nun aber werden sowohl äußere wie innere Vorgänge erst dann ple_150.036 völlig verständlich, wenn wir sie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang ple_150.037 mit der sie umgebenden Welt sehen können. Und genau so viel von ple_150.038 dieser Welt wird uns der Epiker zeigen müssen, wie es nötig ist, jenen ple_150.039 Zusammenhang zu verstehen. Hierzu bedarf es im allgemeinen keineswegs ple_150.040 einer Totalansicht der Natur oder der Menschheit, wohl aber eines dem ple_150.041 Zweck entsprechend begrenzten Ausschnitts aus beiden. Eben dieser Ausschnitt ple_150.042 ist es, den wir uns seit einigen Jahrzehnten gewöhnt haben als ple_150.043 Milieu oder Umwelt zu bezeichnen — ein neues Wort für eine Sache,

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/164>, abgerufen am 23.11.2024.