Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_149.001 ple_149.022 ple_149.038 ple_149.001 ple_149.022 ple_149.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0163" n="149"/><lb n="ple_149.001"/> beide alle Arten von Motiven brauchen; <hi rendition="#g">ihr großer wesentlicher Unterschied <lb n="ple_149.002"/> beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als <lb n="ple_149.003"/> vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen <lb n="ple_149.004"/> gegenwärtig darstellt.</hi> Wollte man das Detail der Gesetze, <lb n="ple_149.005"/> wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen herleiten, <lb n="ple_149.006"/> so müßte man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, <lb n="ple_149.007"/> jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden <lb n="ple_149.008"/> und hörenden Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen.“ „Die <lb n="ple_149.009"/> Behandlung im ganzen betreffend wird der Rhapsode, der das vollkommen <lb n="ple_149.010"/> Vergangene vorträgt, als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit <lb n="ple_149.011"/> das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken, <lb n="ple_149.012"/> die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird <lb n="ple_149.013"/> das Interesse egal verteilen, weil er nicht imstande ist, einen allzu lebhaften <lb n="ple_149.014"/> Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und <lb n="ple_149.015"/> vorwärts greifen und wandeln; man wird ihm überall folgen, denn er hat <lb n="ple_149.016"/> es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt <lb n="ple_149.017"/> und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche <lb n="ple_149.018"/> sie aufruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht <lb n="ple_149.019"/> nicht selbst erscheinen; er lese hinter einem Vorhang am allerbesten, so <lb n="ple_149.020"/> daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der <lb n="ple_149.021"/> Musen im allgemeinen zu hören glaubte.“</p> <p><lb n="ple_149.022"/> „Der Mime dagegen ist gerade in dem entgegengesetzten Fall; er <lb n="ple_149.023"/> stellt sich als ein bestimmtes Individuum dar, er will, daß man an ihm <lb n="ple_149.024"/> und seiner nächsten Umgebung ausschließlich teilnehme, daß man die <lb n="ple_149.025"/> Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühle, seine Verlegenheit teile <lb n="ple_149.026"/> und sich selbst über ihn vergesse. Zwar wird auch er stufenweise zu Werke <lb n="ple_149.027"/> gehen, aber er kann viel lebhaftere Wirkungen wagen, weil bei sinnlicher <lb n="ple_149.028"/> Gegenwart auch sogar der stärkere Eindruck durch einen schwächeren vertilgt <lb n="ple_149.029"/> werden kann. Der zuschauende Hörer darf sich nicht zum Nachdenken <lb n="ple_149.030"/> erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz <lb n="ple_149.031"/> zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und <lb n="ple_149.032"/> selbst was erzählen wird, muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht <lb n="ple_149.033"/> werden.“ „Es stimmt dieses“, so ergänzt Schiller, „sehr gut mit <lb n="ple_149.034"/> dem Begriff des Vergangenseins, welches als stillstehend gedacht werden <lb n="ple_149.035"/> kann, und mit dem Begriff des Erzählens: denn der Erzähler weiß schon <lb n="ple_149.036"/> am Anfang und in der Mitte das Ende, und ihm ist folglich jeder Moment <lb n="ple_149.037"/> der Handlung gleichgeltend, und so behält er durchaus eine ruhige Freiheit.“</p> <p><lb n="ple_149.038"/> Mit diesem unbefangenen sachlich technischen Gesichtspunkt ist nun <lb n="ple_149.039"/> ein fester Ansatz und Ausgangspunkt zur Ergründung der dem Epos <lb n="ple_149.040"/> wesentlichen Gesetze gegeben. Vergangenheitsdichtung und Gegenwartsdarstellung, <lb n="ple_149.041"/> die Kunst des ruhigen Erzählens und des affektvollen Darstellens, <lb n="ple_149.042"/> hiermit ist der entscheidende Gegensatz zwischen Epos und Drama <lb n="ple_149.043"/> allgemeingültig ausgesprochen. <hi rendition="#g">Nach</hi>erleben und <hi rendition="#g">Mit</hi>erleben, so können </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [149/0163]
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beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied ple_149.002
beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als ple_149.003
vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen ple_149.004
gegenwärtig darstellt. Wollte man das Detail der Gesetze, ple_149.005
wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen herleiten, ple_149.006
so müßte man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, ple_149.007
jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden ple_149.008
und hörenden Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen.“ „Die ple_149.009
Behandlung im ganzen betreffend wird der Rhapsode, der das vollkommen ple_149.010
Vergangene vorträgt, als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit ple_149.011
das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken, ple_149.012
die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird ple_149.013
das Interesse egal verteilen, weil er nicht imstande ist, einen allzu lebhaften ple_149.014
Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und ple_149.015
vorwärts greifen und wandeln; man wird ihm überall folgen, denn er hat ple_149.016
es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt ple_149.017
und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche ple_149.018
sie aufruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht ple_149.019
nicht selbst erscheinen; er lese hinter einem Vorhang am allerbesten, so ple_149.020
daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der ple_149.021
Musen im allgemeinen zu hören glaubte.“
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„Der Mime dagegen ist gerade in dem entgegengesetzten Fall; er ple_149.023
stellt sich als ein bestimmtes Individuum dar, er will, daß man an ihm ple_149.024
und seiner nächsten Umgebung ausschließlich teilnehme, daß man die ple_149.025
Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühle, seine Verlegenheit teile ple_149.026
und sich selbst über ihn vergesse. Zwar wird auch er stufenweise zu Werke ple_149.027
gehen, aber er kann viel lebhaftere Wirkungen wagen, weil bei sinnlicher ple_149.028
Gegenwart auch sogar der stärkere Eindruck durch einen schwächeren vertilgt ple_149.029
werden kann. Der zuschauende Hörer darf sich nicht zum Nachdenken ple_149.030
erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz ple_149.031
zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und ple_149.032
selbst was erzählen wird, muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht ple_149.033
werden.“ „Es stimmt dieses“, so ergänzt Schiller, „sehr gut mit ple_149.034
dem Begriff des Vergangenseins, welches als stillstehend gedacht werden ple_149.035
kann, und mit dem Begriff des Erzählens: denn der Erzähler weiß schon ple_149.036
am Anfang und in der Mitte das Ende, und ihm ist folglich jeder Moment ple_149.037
der Handlung gleichgeltend, und so behält er durchaus eine ruhige Freiheit.“
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Mit diesem unbefangenen sachlich technischen Gesichtspunkt ist nun ple_149.039
ein fester Ansatz und Ausgangspunkt zur Ergründung der dem Epos ple_149.040
wesentlichen Gesetze gegeben. Vergangenheitsdichtung und Gegenwartsdarstellung, ple_149.041
die Kunst des ruhigen Erzählens und des affektvollen Darstellens, ple_149.042
hiermit ist der entscheidende Gegensatz zwischen Epos und Drama ple_149.043
allgemeingültig ausgesprochen. Nacherleben und Miterleben, so können
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