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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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soll. Schiller war sich darüber völlig klar. "Wenn", schreibt er an Goethe, ple_137.002
"etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll, ple_137.003
so muß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden."1) ple_137.004
Während indessen die Darstellung des reinen Gefühlserlebnisses im allgemeinen, ple_137.005
wie wir oben sahen, der Einheit oder wenigstens Einheitlichkeit ple_137.006
des Symbols bedarf, um selbst zusammenhängend und einheitlich zu wirken, ple_137.007
wird dem reflektierenden Gedicht diese Einheit durch den Gedanken selbst ple_137.008
gegeben, und es ist sehr wohl möglich, diesen Gedanken in seinen verschiedenen ple_137.009
Wendungen durch sehr verschiedene Sinnbilder zur Darstellung ple_137.010
zu bringen, ohne daß der Zusammenhang dadurch locker oder unklar ple_137.011
würde. Schiller verfährt fast immer so; in Ideal und Leben wie im ple_137.012
Glück drängt geradezu ein Bild das andere, ohne daß die Einheitlichkeit ple_137.013
des Eindrucks dadurch verlöre. Wo es freilich der Gedanke und die Natur ple_137.014
des Symbols zulassen, wird es die künstlerische Wirkung erhöhen, wenn ple_137.015
ein einheitliches Sinnbild in seinen verschiedenen Teilen und Wendungen ple_137.016
den Gedankengang ganz und gar aufnimmt. Das ist in den früheren Gedankendichtungen ple_137.017
Goethes "Adler und Taube", "Mahomets Gesang", ple_137.018
"Prometheus" u. s. w. der Fall. Und Rückert hat in der sterbenden Blume, ple_137.019
Fitger im Gottesurteil, um nur einige Beispiele anzuführen, diese Einheit ple_137.020
des Sinnbildes aufs schönste durchgeführt. --

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Zur Gedankenlyrik zählen auch die kurzen Versgebilde, die man als ple_137.022
Epigramme oder Sinngedichte zu bezeichnen pflegt. Der Name wird ple_137.023
herkömmlicherweise sehr allgemein gebraucht und auf jedes kurze Gedicht ple_137.024
angewendet, das nur einen Gedanken zum Ausdruck bringt. So faßt

1) ple_137.025
Vortrefflich stellt R. M. Werner im Anschluß hieran das Verhältnis zwischen Gefühls- ple_137.026
und Gedankenlyrik dar. "Vergleichen wir Gefühls- und Gedankenlyrik miteinander, ple_137.027
so zeigt sich augenblicklich die Verschiedenheit des Weges, den beide zurücklegen, aber ple_137.028
die Gleichheit des Ziels. Das Gefühlserlebnis geht von einem zufälligen Individuellen ple_137.029
aus: das Bestreben des Dichters muß sein, daraus das Allgemeingültige herauszuschälen. ple_137.030
Das Gedankenerlebnis geht vom notwendigen Allgemeinen aus: das Bestreben des Dichters ple_137.031
ist darauf gerichtet, es mit individuellem Leben zu umkleiden. Das Gedankenerlebnis ist ple_137.032
eine abstrakte Wahrheit, das Gefühlserlebnis eine Erscheinung der Wirklichkeit; jenes hat ple_137.033
Notwendigkeit, dieses hat Freiheit; jenes Klarheit, dieses Fülle. Sie könnten sich also ple_137.034
gegenseitig ergänzen, und die Phantasie des Dichters läßt beiden, was sie haben, und ple_137.035
sucht ihnen zu geben, was ihnen fehlt: das notwendig Allgemeine muß individuelles ple_137.036
Leben erhalten, die abstrakte Wahrheit muß in wirkliche Erscheinung treten; der Notwendigkeit ple_137.037
muß sich Freiheit gesellen, der Klarheit die Fülle; mit einem Worte: das Gedankenerlebnis ple_137.038
soll dem Gefühlserlebnis genähert werden, was vom Geiste seinen Ausgang ple_137.039
nahm, wird durch die Phantasie dem Gemüte nahe gebracht. Das Umgekehrte hat beim ple_137.040
Gefühlserlebnis statt: das individuelle Lebendige muß zum notwendig Allgemeingültigen ple_137.041
erhoben werden, die Erscheinung der Wirklichkeit zur Wahrheit, mit der Freiheit muß ple_137.042
sich die Notwendigkeit paaren und in aller Fülle die Klarheit sichtbar werden; das, was ple_137.043
vom Gemüte kommt, wird durch die Einbildungskraft dem Denker erschlossen. Weder ple_137.044
das Gefühls- noch das Gedankenerlebnis an sich ist Lyrik, sondern wird durch die Phantasie ple_137.045
zum Lyrischen erst gemacht."

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soll. Schiller war sich darüber völlig klar. „Wenn“, schreibt er an Goethe, ple_137.002
„etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll, ple_137.003
so muß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden.“1) ple_137.004
Während indessen die Darstellung des reinen Gefühlserlebnisses im allgemeinen, ple_137.005
wie wir oben sahen, der Einheit oder wenigstens Einheitlichkeit ple_137.006
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wird dem reflektierenden Gedicht diese Einheit durch den Gedanken selbst ple_137.008
gegeben, und es ist sehr wohl möglich, diesen Gedanken in seinen verschiedenen ple_137.009
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zu bringen, ohne daß der Zusammenhang dadurch locker oder unklar ple_137.011
würde. Schiller verfährt fast immer so; in Ideal und Leben wie im ple_137.012
Glück drängt geradezu ein Bild das andere, ohne daß die Einheitlichkeit ple_137.013
des Eindrucks dadurch verlöre. Wo es freilich der Gedanke und die Natur ple_137.014
des Symbols zulassen, wird es die künstlerische Wirkung erhöhen, wenn ple_137.015
ein einheitliches Sinnbild in seinen verschiedenen Teilen und Wendungen ple_137.016
den Gedankengang ganz und gar aufnimmt. Das ist in den früheren Gedankendichtungen ple_137.017
Goethes „Adler und Taube“, „Mahomets Gesang“, ple_137.018
„Prometheus“ u. s. w. der Fall. Und Rückert hat in der sterbenden Blume, ple_137.019
Fitger im Gottesurteil, um nur einige Beispiele anzuführen, diese Einheit ple_137.020
des Sinnbildes aufs schönste durchgeführt. —

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Zur Gedankenlyrik zählen auch die kurzen Versgebilde, die man als ple_137.022
Epigramme oder Sinngedichte zu bezeichnen pflegt. Der Name wird ple_137.023
herkömmlicherweise sehr allgemein gebraucht und auf jedes kurze Gedicht ple_137.024
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1) ple_137.025
Vortrefflich stellt R. M. Werner im Anschluß hieran das Verhältnis zwischen Gefühls- ple_137.026
und Gedankenlyrik dar. „Vergleichen wir Gefühls- und Gedankenlyrik miteinander, ple_137.027
so zeigt sich augenblicklich die Verschiedenheit des Weges, den beide zurücklegen, aber ple_137.028
die Gleichheit des Ziels. Das Gefühlserlebnis geht von einem zufälligen Individuellen ple_137.029
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Das Gedankenerlebnis geht vom notwendigen Allgemeinen aus: das Bestreben des Dichters ple_137.031
ist darauf gerichtet, es mit individuellem Leben zu umkleiden. Das Gedankenerlebnis ist ple_137.032
eine abstrakte Wahrheit, das Gefühlserlebnis eine Erscheinung der Wirklichkeit; jenes hat ple_137.033
Notwendigkeit, dieses hat Freiheit; jenes Klarheit, dieses Fülle. Sie könnten sich also ple_137.034
gegenseitig ergänzen, und die Phantasie des Dichters läßt beiden, was sie haben, und ple_137.035
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soll dem Gefühlserlebnis genähert werden, was vom Geiste seinen Ausgang ple_137.039
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Gefühlserlebnis statt: das individuelle Lebendige muß zum notwendig Allgemeingültigen ple_137.041
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vom Gemüte kommt, wird durch die Einbildungskraft dem Denker erschlossen. Weder ple_137.044
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[137/0151] ple_137.001 soll. Schiller war sich darüber völlig klar. „Wenn“, schreibt er an Goethe, ple_137.002 „etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll, ple_137.003 so muß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden.“ 1) ple_137.004 Während indessen die Darstellung des reinen Gefühlserlebnisses im allgemeinen, ple_137.005 wie wir oben sahen, der Einheit oder wenigstens Einheitlichkeit ple_137.006 des Symbols bedarf, um selbst zusammenhängend und einheitlich zu wirken, ple_137.007 wird dem reflektierenden Gedicht diese Einheit durch den Gedanken selbst ple_137.008 gegeben, und es ist sehr wohl möglich, diesen Gedanken in seinen verschiedenen ple_137.009 Wendungen durch sehr verschiedene Sinnbilder zur Darstellung ple_137.010 zu bringen, ohne daß der Zusammenhang dadurch locker oder unklar ple_137.011 würde. Schiller verfährt fast immer so; in Ideal und Leben wie im ple_137.012 Glück drängt geradezu ein Bild das andere, ohne daß die Einheitlichkeit ple_137.013 des Eindrucks dadurch verlöre. Wo es freilich der Gedanke und die Natur ple_137.014 des Symbols zulassen, wird es die künstlerische Wirkung erhöhen, wenn ple_137.015 ein einheitliches Sinnbild in seinen verschiedenen Teilen und Wendungen ple_137.016 den Gedankengang ganz und gar aufnimmt. Das ist in den früheren Gedankendichtungen ple_137.017 Goethes „Adler und Taube“, „Mahomets Gesang“, ple_137.018 „Prometheus“ u. s. w. der Fall. Und Rückert hat in der sterbenden Blume, ple_137.019 Fitger im Gottesurteil, um nur einige Beispiele anzuführen, diese Einheit ple_137.020 des Sinnbildes aufs schönste durchgeführt. — ple_137.021 Zur Gedankenlyrik zählen auch die kurzen Versgebilde, die man als ple_137.022 Epigramme oder Sinngedichte zu bezeichnen pflegt. Der Name wird ple_137.023 herkömmlicherweise sehr allgemein gebraucht und auf jedes kurze Gedicht ple_137.024 angewendet, das nur einen Gedanken zum Ausdruck bringt. So faßt 1) ple_137.025 Vortrefflich stellt R. M. Werner im Anschluß hieran das Verhältnis zwischen Gefühls- ple_137.026 und Gedankenlyrik dar. „Vergleichen wir Gefühls- und Gedankenlyrik miteinander, ple_137.027 so zeigt sich augenblicklich die Verschiedenheit des Weges, den beide zurücklegen, aber ple_137.028 die Gleichheit des Ziels. Das Gefühlserlebnis geht von einem zufälligen Individuellen ple_137.029 aus: das Bestreben des Dichters muß sein, daraus das Allgemeingültige herauszuschälen. ple_137.030 Das Gedankenerlebnis geht vom notwendigen Allgemeinen aus: das Bestreben des Dichters ple_137.031 ist darauf gerichtet, es mit individuellem Leben zu umkleiden. Das Gedankenerlebnis ist ple_137.032 eine abstrakte Wahrheit, das Gefühlserlebnis eine Erscheinung der Wirklichkeit; jenes hat ple_137.033 Notwendigkeit, dieses hat Freiheit; jenes Klarheit, dieses Fülle. Sie könnten sich also ple_137.034 gegenseitig ergänzen, und die Phantasie des Dichters läßt beiden, was sie haben, und ple_137.035 sucht ihnen zu geben, was ihnen fehlt: das notwendig Allgemeine muß individuelles ple_137.036 Leben erhalten, die abstrakte Wahrheit muß in wirkliche Erscheinung treten; der Notwendigkeit ple_137.037 muß sich Freiheit gesellen, der Klarheit die Fülle; mit einem Worte: das Gedankenerlebnis ple_137.038 soll dem Gefühlserlebnis genähert werden, was vom Geiste seinen Ausgang ple_137.039 nahm, wird durch die Phantasie dem Gemüte nahe gebracht. Das Umgekehrte hat beim ple_137.040 Gefühlserlebnis statt: das individuelle Lebendige muß zum notwendig Allgemeingültigen ple_137.041 erhoben werden, die Erscheinung der Wirklichkeit zur Wahrheit, mit der Freiheit muß ple_137.042 sich die Notwendigkeit paaren und in aller Fülle die Klarheit sichtbar werden; das, was ple_137.043 vom Gemüte kommt, wird durch die Einbildungskraft dem Denker erschlossen. Weder ple_137.044 das Gefühls- noch das Gedankenerlebnis an sich ist Lyrik, sondern wird durch die Phantasie ple_137.045 zum Lyrischen erst gemacht.“

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/151>, abgerufen am 22.11.2024.