Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_136.001 ple_136.022 ple_136.031 ple_136.001 ple_136.022 ple_136.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0150" n="136"/><lb n="ple_136.001"/> die Schönheitstrunkenheit einer durch und durch künstlerischen Weltanschauung <lb n="ple_136.002"/> die Lebensquelle, aus denen die Lehre des Pantheismus, wie sie sich <lb n="ple_136.003"/> in und mit unserer klassischen Dichtung entwickelt hat, ihre Kräfte zieht. <lb n="ple_136.004"/> Von Goethes herrlicher Jugendschöpfung, dem <hi rendition="#g">Wanderer,</hi> an bis zu den <lb n="ple_136.005"/> tiefsinnigen Dichtungen, die der Greis in „Gott und Welt“ zusammenfaßte, <lb n="ple_136.006"/> zeigt uns seine Gedankenlyrik durchweg jene Fülle und Wärme der Empfindung, <lb n="ple_136.007"/> jenen Enthusiasmus des Schauens, welcher die Reflexion zur Poesie <lb n="ple_136.008"/> macht. Und wie seine Weltanschauung, so hat auch ihr dichterischer Ausdruck <lb n="ple_136.009"/> tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein nachgewirkt. So viel Trockenes <lb n="ple_136.010"/> und Undichterisches die allzu zahlreichen Bände Rückertscher Lyrik enthalten, <lb n="ple_136.011"/> so sollte man doch nicht vergessen, daß er in einer Reihe von Gedichten <lb n="ple_136.012"/> wahrhaft ersten Ranges die Tradition Goethescher Gedankenlyrik <lb n="ple_136.013"/> aufgenommen und ihres Begründers würdig fortgesetzt hat: die sterbende <lb n="ple_136.014"/> Blume, Waldstille, Trauerlieder, Kindertotenlieder u. ähnl. Unter den heute <lb n="ple_136.015"/> noch lebenden Dichtern ist es besonders der viel zu wenig gewürdigte <lb n="ple_136.016"/> Arthur Fitger, der mit ähnlicher Tiefe der Gedanken und Kraft der Empfindungen <lb n="ple_136.017"/> die gleiche Weltanschauung, wenn auch in modernen Wendungen, <lb n="ple_136.018"/> zum künstlerischen Ausdruck gebracht hat. In allen diesen Gedichten hat <lb n="ple_136.019"/> der Pantheismus die Wärme und den gefühlsmäßigen Inhalt der Religion, <lb n="ple_136.020"/> und wenn man das Wort nur allgemein genug nimmt, so kann man diese <lb n="ple_136.021"/> Art der Gedankenlyrik wohl als religiöse Dichtung bezeichnen.</p> <p><lb n="ple_136.022"/> Tatsächlich zeigt ein Blick auf die geistliche Dichtung im engeren <lb n="ple_136.023"/> Sinne das gleiche Gesetz. In ihren wertvollsten Erzeugnissen, wie Luthers <lb n="ple_136.024"/> und Paul Gerhards Liedern, ist sie echte Lyrik, und die allgemein christlichen <lb n="ple_136.025"/> oder dogmatischen <hi rendition="#g">Gedanken</hi> dienen nur dazu, religiöse Empfindung <lb n="ple_136.026"/> und Begeisterung auszulösen. Wo dagegen die Reflexion, insbesondere <lb n="ple_136.027"/> die moralisierende, allzu entschieden und scharf hervortritt, wie <lb n="ple_136.028"/> bei Gellert, da bleibt sie lehrhaft und unpoetisch, selbst wenn sie Gedanken <lb n="ple_136.029"/> behandelt, die an sich, wie z. B. die Liebe zu den Mitmenschen, <lb n="ple_136.030"/> gar wohl einer dichterischen Behandlung fähig wären.</p> <p><lb n="ple_136.031"/> Während nun aber in der Gefühlslyrik das äußere Erlebnis von dem <lb n="ple_136.032"/> inneren gleichsam aufgezehrt erscheint und nur in seinen allgemeinsten <lb n="ple_136.033"/> Umrissen noch sichtbar ist, bleiben in der Ideendichtung die Gedanken <lb n="ple_136.034"/> notwendigerweise in voller Schärfe und Klarheit erkennbar, nur daß sie <lb n="ple_136.035"/> von den Gefühlen, die sie hervorrufen und beherrschen, gleichsam getragen <lb n="ple_136.036"/> werden. Ein Verschwimmen der Umrisse, das in der Gefühlslyrik reizvoll <lb n="ple_136.037"/> sein kann, wird hier immer als peinliche Unklarheit empfunden werden. <lb n="ple_136.038"/> Gleichwohl bedarf die Gedankendichtung im allgemeinen nicht weniger wie <lb n="ple_136.039"/> die Gefühlslyrik der symbolischen Darstellung. Nur wo, wie in Goethes <lb n="ple_136.040"/> Metamorphose der Tiere und der Pflanzen, der Gedanke an sich im Anschaulichen <lb n="ple_136.041"/> bleibt, braucht der Dichter das Sinnbild nicht, sonst aber fordert <lb n="ple_136.042"/> gerade der abstrakte Gedanke in der poetischen Behandlung die symbolische <lb n="ple_136.043"/> Anschaulichkeit, wenn er nicht lehrhaft und unkünstlerisch wirken </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [136/0150]
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die Schönheitstrunkenheit einer durch und durch künstlerischen Weltanschauung ple_136.002
die Lebensquelle, aus denen die Lehre des Pantheismus, wie sie sich ple_136.003
in und mit unserer klassischen Dichtung entwickelt hat, ihre Kräfte zieht. ple_136.004
Von Goethes herrlicher Jugendschöpfung, dem Wanderer, an bis zu den ple_136.005
tiefsinnigen Dichtungen, die der Greis in „Gott und Welt“ zusammenfaßte, ple_136.006
zeigt uns seine Gedankenlyrik durchweg jene Fülle und Wärme der Empfindung, ple_136.007
jenen Enthusiasmus des Schauens, welcher die Reflexion zur Poesie ple_136.008
macht. Und wie seine Weltanschauung, so hat auch ihr dichterischer Ausdruck ple_136.009
tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein nachgewirkt. So viel Trockenes ple_136.010
und Undichterisches die allzu zahlreichen Bände Rückertscher Lyrik enthalten, ple_136.011
so sollte man doch nicht vergessen, daß er in einer Reihe von Gedichten ple_136.012
wahrhaft ersten Ranges die Tradition Goethescher Gedankenlyrik ple_136.013
aufgenommen und ihres Begründers würdig fortgesetzt hat: die sterbende ple_136.014
Blume, Waldstille, Trauerlieder, Kindertotenlieder u. ähnl. Unter den heute ple_136.015
noch lebenden Dichtern ist es besonders der viel zu wenig gewürdigte ple_136.016
Arthur Fitger, der mit ähnlicher Tiefe der Gedanken und Kraft der Empfindungen ple_136.017
die gleiche Weltanschauung, wenn auch in modernen Wendungen, ple_136.018
zum künstlerischen Ausdruck gebracht hat. In allen diesen Gedichten hat ple_136.019
der Pantheismus die Wärme und den gefühlsmäßigen Inhalt der Religion, ple_136.020
und wenn man das Wort nur allgemein genug nimmt, so kann man diese ple_136.021
Art der Gedankenlyrik wohl als religiöse Dichtung bezeichnen.
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Tatsächlich zeigt ein Blick auf die geistliche Dichtung im engeren ple_136.023
Sinne das gleiche Gesetz. In ihren wertvollsten Erzeugnissen, wie Luthers ple_136.024
und Paul Gerhards Liedern, ist sie echte Lyrik, und die allgemein christlichen ple_136.025
oder dogmatischen Gedanken dienen nur dazu, religiöse Empfindung ple_136.026
und Begeisterung auszulösen. Wo dagegen die Reflexion, insbesondere ple_136.027
die moralisierende, allzu entschieden und scharf hervortritt, wie ple_136.028
bei Gellert, da bleibt sie lehrhaft und unpoetisch, selbst wenn sie Gedanken ple_136.029
behandelt, die an sich, wie z. B. die Liebe zu den Mitmenschen, ple_136.030
gar wohl einer dichterischen Behandlung fähig wären.
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Während nun aber in der Gefühlslyrik das äußere Erlebnis von dem ple_136.032
inneren gleichsam aufgezehrt erscheint und nur in seinen allgemeinsten ple_136.033
Umrissen noch sichtbar ist, bleiben in der Ideendichtung die Gedanken ple_136.034
notwendigerweise in voller Schärfe und Klarheit erkennbar, nur daß sie ple_136.035
von den Gefühlen, die sie hervorrufen und beherrschen, gleichsam getragen ple_136.036
werden. Ein Verschwimmen der Umrisse, das in der Gefühlslyrik reizvoll ple_136.037
sein kann, wird hier immer als peinliche Unklarheit empfunden werden. ple_136.038
Gleichwohl bedarf die Gedankendichtung im allgemeinen nicht weniger wie ple_136.039
die Gefühlslyrik der symbolischen Darstellung. Nur wo, wie in Goethes ple_136.040
Metamorphose der Tiere und der Pflanzen, der Gedanke an sich im Anschaulichen ple_136.041
bleibt, braucht der Dichter das Sinnbild nicht, sonst aber fordert ple_136.042
gerade der abstrakte Gedanke in der poetischen Behandlung die symbolische ple_136.043
Anschaulichkeit, wenn er nicht lehrhaft und unkünstlerisch wirken
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