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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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[Beginn Spaltensatz]

Du milchjunger Knabe, ple_129.002
Wie siehst du mich an? ple_129.003
Was haben deine Augen ple_129.004
Für eine Frage getan!
[Spaltenumbruch] ple_129.101
Alle Ratsherrn der Stadt ple_129.102
Und alle Weisen der Welt ple_129.103
Bleiben stumm auf die Frage, ple_129.104
Die deine Augen gestellt!
[Ende Spaltensatz] ple_129.105
Ein leeres Schneckhäusel, ple_129.106
Schau, liegt dort im Gras; ple_129.107
Da halte dein Ohr dran, ple_129.108
Drin brümmelt dir was!

ple_129.109
Man kann in der Tat sagen, daß für den echten Lyriker alles, was ple_129.110
ihm die Außenwelt bietet, zum Symbol des Innenlebens, jeder Eindruck ple_129.111
der Natur zum Sinnbild seiner Gefühle wird. Ja, es gibt einige wertvolle ple_129.112
lyrische Gedichte, deren Thema eben diese Tatsache bildet. Schon die ple_129.113
S. 124 f. angeführten Verse gehören in diese Reihe; aber bis ins Mystische ple_129.114
vertieft und erweitert gibt den Gedanken der All-Symbolik das letzte Gedicht ple_129.115
des Buches Suleika im westöstlichen Divan wieder: ple_129.116

In tausend Formen magst du dich verstecken, ple_129.117
Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich; ple_129.118
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken, ple_129.119
Allgegenwärt'ge, gleich erkenn' ich dich.
ple_129.120
An der Zypresse reinstem, jungen Streben, ple_129.121
Allschöngewachs'ne, gleich erkenn' ich dich; ple_129.122
In des Kanales reinem Wellenleben, ple_129.123
Allschmeichelhafte, wohl erkenn' ich dich.
ple_129.124
Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet, ple_129.125
Allspielende, wie froh erkenn' ich dich; ple_129.126
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet, ple_129.127
Allmannigfalt'ge, dort erkenn' ich dich.
ple_129.128
An des geblümten Schleiers Wiesenteppich, ple_129.129
Allbuntbesternte, schön erkenn' ich dich; ple_129.130
Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich, ple_129.131
O Allumklammernde, da kenn' ich dich.
ple_129.132
Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, ple_129.133
Gleich, Allerheiternde, begrüß' ich dich; ple_129.134
Dann über mir der Himmel rein sich ründet, ple_129.135
Allherzerweiternde, dann atm' ich dich.
ple_129.136
Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne, ple_129.137
Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich; ple_129.138
Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, ple_129.139
Mit jedem klingt ein Name nach durch dich.

ple_129.140
Ihm entspricht ein vielleicht unter seinem Einfluß entstandenes Gedicht ple_129.141
Heines, das wie das oben angeführte zu seinen unbekannteren gehört und ple_129.142
deshalb gleichfalls hier abgedruckt werden mag. ple_129.143
[Beginn Spaltensatz]

Jegliche Gestalt bekleidend, ple_129.144
Bin ich stets in deiner Nähe, ple_129.145
Aber immer bin ich leidend, ple_129.146
Und du tust mir immer wehe.
[Spaltenumbruch] ple_129.101
Wenn du, zwischen Blumenbeeten ple_129.102
Wandelnd in des Sommers Tagen, ple_129.103
Einen Schmetterling zertreten -- ple_129.104
Hörst du mich nicht leise klagen?
[Ende Spaltensatz]

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[Beginn Spaltensatz]

Du milchjunger Knabe, ple_129.002
Wie siehst du mich an? ple_129.003
Was haben deine Augen ple_129.004
Für eine Frage getan!
[Spaltenumbruch] ple_129.101
Alle Ratsherrn der Stadt ple_129.102
Und alle Weisen der Welt ple_129.103
Bleiben stumm auf die Frage, ple_129.104
Die deine Augen gestellt!
[Ende Spaltensatz] ple_129.105
Ein leeres Schneckhäusel, ple_129.106
Schau, liegt dort im Gras; ple_129.107
Da halte dein Ohr dran, ple_129.108
Drin brümmelt dir was!

ple_129.109
Man kann in der Tat sagen, daß für den echten Lyriker alles, was ple_129.110
ihm die Außenwelt bietet, zum Symbol des Innenlebens, jeder Eindruck ple_129.111
der Natur zum Sinnbild seiner Gefühle wird. Ja, es gibt einige wertvolle ple_129.112
lyrische Gedichte, deren Thema eben diese Tatsache bildet. Schon die ple_129.113
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vertieft und erweitert gibt den Gedanken der All-Symbolik das letzte Gedicht ple_129.115
des Buches Suleika im westöstlichen Divan wieder: ple_129.116

In tausend Formen magst du dich verstecken, ple_129.117
Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich; ple_129.118
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken, ple_129.119
Allgegenwärt'ge, gleich erkenn' ich dich.
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An der Zypresse reinstem, jungen Streben, ple_129.121
Allschöngewachs'ne, gleich erkenn' ich dich; ple_129.122
In des Kanales reinem Wellenleben, ple_129.123
Allschmeichelhafte, wohl erkenn' ich dich.
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Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet, ple_129.125
Allspielende, wie froh erkenn' ich dich; ple_129.126
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Allmannigfalt'ge, dort erkenn' ich dich.
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An des geblümten Schleiers Wiesenteppich, ple_129.129
Allbuntbesternte, schön erkenn' ich dich; ple_129.130
Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich, ple_129.131
O Allumklammernde, da kenn' ich dich.
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Allherzerweiternde, dann atm' ich dich.
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Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich; ple_129.138
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Mit jedem klingt ein Name nach durch dich.

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Heines, das wie das oben angeführte zu seinen unbekannteren gehört und ple_129.142
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Jegliche Gestalt bekleidend, ple_129.144
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[129/0143] ple_129.001 Du milchjunger Knabe, ple_129.002 Wie siehst du mich an? ple_129.003 Was haben deine Augen ple_129.004 Für eine Frage getan! ple_129.101 Alle Ratsherrn der Stadt ple_129.102 Und alle Weisen der Welt ple_129.103 Bleiben stumm auf die Frage, ple_129.104 Die deine Augen gestellt! ple_129.105 Ein leeres Schneckhäusel, ple_129.106 Schau, liegt dort im Gras; ple_129.107 Da halte dein Ohr dran, ple_129.108 Drin brümmelt dir was! ple_129.109 Man kann in der Tat sagen, daß für den echten Lyriker alles, was ple_129.110 ihm die Außenwelt bietet, zum Symbol des Innenlebens, jeder Eindruck ple_129.111 der Natur zum Sinnbild seiner Gefühle wird. Ja, es gibt einige wertvolle ple_129.112 lyrische Gedichte, deren Thema eben diese Tatsache bildet. Schon die ple_129.113 S. 124 f. angeführten Verse gehören in diese Reihe; aber bis ins Mystische ple_129.114 vertieft und erweitert gibt den Gedanken der All-Symbolik das letzte Gedicht ple_129.115 des Buches Suleika im westöstlichen Divan wieder: ple_129.116 In tausend Formen magst du dich verstecken, ple_129.117 Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich; ple_129.118 Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken, ple_129.119 Allgegenwärt'ge, gleich erkenn' ich dich. ple_129.120 An der Zypresse reinstem, jungen Streben, ple_129.121 Allschöngewachs'ne, gleich erkenn' ich dich; ple_129.122 In des Kanales reinem Wellenleben, ple_129.123 Allschmeichelhafte, wohl erkenn' ich dich. ple_129.124 Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet, ple_129.125 Allspielende, wie froh erkenn' ich dich; ple_129.126 Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet, ple_129.127 Allmannigfalt'ge, dort erkenn' ich dich. ple_129.128 An des geblümten Schleiers Wiesenteppich, ple_129.129 Allbuntbesternte, schön erkenn' ich dich; ple_129.130 Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich, ple_129.131 O Allumklammernde, da kenn' ich dich. ple_129.132 Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, ple_129.133 Gleich, Allerheiternde, begrüß' ich dich; ple_129.134 Dann über mir der Himmel rein sich ründet, ple_129.135 Allherzerweiternde, dann atm' ich dich. ple_129.136 Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne, ple_129.137 Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich; ple_129.138 Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, ple_129.139 Mit jedem klingt ein Name nach durch dich. ple_129.140 Ihm entspricht ein vielleicht unter seinem Einfluß entstandenes Gedicht ple_129.141 Heines, das wie das oben angeführte zu seinen unbekannteren gehört und ple_129.142 deshalb gleichfalls hier abgedruckt werden mag. ple_129.143 Jegliche Gestalt bekleidend, ple_129.144 Bin ich stets in deiner Nähe, ple_129.145 Aber immer bin ich leidend, ple_129.146 Und du tust mir immer wehe. ple_129.101 Wenn du, zwischen Blumenbeeten ple_129.102 Wandelnd in des Sommers Tagen, ple_129.103 Einen Schmetterling zertreten — ple_129.104 Hörst du mich nicht leise klagen?

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/143>, abgerufen am 25.11.2024.