Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_128.001 "Die tiefen tiefen Wasser, die haben keinen Grund" ple_128.009 ple_128.026 ple_128.105 ple_128.001 „Die tiefen tiefen Wasser, die haben keinen Grund“ ple_128.009 ple_128.026 ple_128.105 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0142" n="128"/> <p><lb n="ple_128.001"/> Die Atmosphäre der Poesie ist gewissermaßen voll von dichterischen <lb n="ple_128.002"/> Symbolen, viele in ihre Entstehung hinein nicht zu verfolgen, viele in langer <lb n="ple_128.003"/> Überlieferung schon bis zu einem gewissen Grade abgetrocknet und leicht <lb n="ple_128.004"/> von einem zum anderen übertragbar. Die ritterliche Lyrik und das spätere <lb n="ple_128.005"/> Volkslied zeigen uns das in gleichem Maße. Immer wieder dieselben <lb n="ple_128.006"/> Bilder, immer wieder Vogelsang und Blumen. Dazwischen freilich ursprünglichere <lb n="ple_128.007"/> Wendungen:</p> <lb n="ple_128.008"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq">„Die tiefen tiefen Wasser, die haben keinen Grund“</hi> </l> </lg> <p><lb n="ple_128.009"/> und ähnliches. Starrer als das Volkslied zeigt sich auch hier die Poesie der <lb n="ple_128.010"/> Renaissance. Ihre Symbole und Personifikationen, vor allem der Olymp <lb n="ple_128.011"/> mit seinen stereotypen Gestalten, dauern bis in die Zeit jugendlich neuer <lb n="ple_128.012"/> Dichtung hinein fort, und selbst in einem Gedicht so voll ursprünglicher <lb n="ple_128.013"/> Frische und eigenen Sprachlebens wie Goethes „Willkommen und Abschied“ <lb n="ple_128.014"/> mutet uns ein „Götter!“ in der letzten Zeile an wie ein abgestorbenes <lb n="ple_128.015"/> Stück Holz zwischen blühenden Zweigen. Denn die Kunst <lb n="ple_128.016"/> des lyrischen Genius, vor allem Goethes, besteht eben darin, neue Symbole <lb n="ple_128.017"/> zu schaffen, alte neu zu beleben. Der Mond und die Sterne gewinnen <lb n="ple_128.018"/> neuen Glanz, Wind und Welle werden zu Sinnbildern für Menschenseele <lb n="ple_128.019"/> und Schicksal. Am farb'gen Abglanz des Wasserfalls haben wir das <lb n="ple_128.020"/> Leben; das Haideröslein und das im Wald gefundene Blümchen spiegeln <lb n="ple_128.021"/> Mädchenseele und Frauengeschicke wieder. — Den Geist volkstümlicher <lb n="ple_128.022"/> Symbolik wissen die Romantiker, zumal die jüngeren, wohl zu treffen („In <lb n="ple_128.023"/> einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad“), und Heine hat besonders <lb n="ple_128.024"/> mit Bildern des Meeres und seiner Bewegung die lyrische Symbolik bereichert.</p> <lb n="ple_128.025"/> <p><lb n="ple_128.026"/> Der eigentümlichste Reiz dieser Darstellungsart besteht nun darin, daß <lb n="ple_128.027"/> die symbolische Bedeutung abwechselnd bald hinter dem Bilde selbst <lb n="ple_128.028"/> zurücktritt, bald wieder stärker zum Bewußtsein kommt. In Mahomets <lb n="ple_128.029"/> Gesang z. B. läßt sich dieser Wechsel deutlich verfolgen. Im Gesang der <lb n="ple_128.030"/> Geister über den Wassern tritt der gedankenhafte Sinn des Gedichtes, den <lb n="ple_128.031"/> wir freilich schon im Verlauf der Schilderung immer deutlicher ahnen, erst <lb n="ple_128.032"/> am Schluß hervor, und mit besonders überraschender Anmut erfolgt die <lb n="ple_128.033"/> Wendung vom rein Bildlichen zum Sinnbildlichen in folgenden Versen <lb n="ple_128.034"/> Heines: <lb n="ple_128.035"/> <cb type="start"/><hi rendition="#aq"><lg><l>Es ziehen die brausenden Wellen</l><lb n="ple_128.036"/><l>Wohl nach dem Strand;</l><lb n="ple_128.037"/><l>Sie schwellen und zerschellen</l><lb n="ple_128.038"/><l>Wohl auf dem Sand.</l></lg><cb/><lb n="ple_128.101"/><lg><l>Sie kommen groß und kräftig,</l><lb n="ple_128.102"/><l>Ohn' Unterlaß;</l><lb n="ple_128.103"/><l>Sie werden endlich heftig —</l><lb n="ple_128.104"/><l>Was hilft uns das?</l></lg></hi><cb type="end"/></p> <p><lb n="ple_128.105"/> Umgekehrt richtet Gottfried Keller in einem ebenso graziösen wie tiefsinnigen <lb n="ple_128.106"/> kleinen Gedicht die Spannung auf einen Gedanken, den er dann <lb n="ple_128.107"/> mit einer nicht minder überraschenden Wendung nur symbolisch ahnungsvoll <lb n="ple_128.108"/> ausdrückt: </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [128/0142]
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Die Atmosphäre der Poesie ist gewissermaßen voll von dichterischen ple_128.002
Symbolen, viele in ihre Entstehung hinein nicht zu verfolgen, viele in langer ple_128.003
Überlieferung schon bis zu einem gewissen Grade abgetrocknet und leicht ple_128.004
von einem zum anderen übertragbar. Die ritterliche Lyrik und das spätere ple_128.005
Volkslied zeigen uns das in gleichem Maße. Immer wieder dieselben ple_128.006
Bilder, immer wieder Vogelsang und Blumen. Dazwischen freilich ursprünglichere ple_128.007
Wendungen:
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„Die tiefen tiefen Wasser, die haben keinen Grund“
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und ähnliches. Starrer als das Volkslied zeigt sich auch hier die Poesie der ple_128.010
Renaissance. Ihre Symbole und Personifikationen, vor allem der Olymp ple_128.011
mit seinen stereotypen Gestalten, dauern bis in die Zeit jugendlich neuer ple_128.012
Dichtung hinein fort, und selbst in einem Gedicht so voll ursprünglicher ple_128.013
Frische und eigenen Sprachlebens wie Goethes „Willkommen und Abschied“ ple_128.014
mutet uns ein „Götter!“ in der letzten Zeile an wie ein abgestorbenes ple_128.015
Stück Holz zwischen blühenden Zweigen. Denn die Kunst ple_128.016
des lyrischen Genius, vor allem Goethes, besteht eben darin, neue Symbole ple_128.017
zu schaffen, alte neu zu beleben. Der Mond und die Sterne gewinnen ple_128.018
neuen Glanz, Wind und Welle werden zu Sinnbildern für Menschenseele ple_128.019
und Schicksal. Am farb'gen Abglanz des Wasserfalls haben wir das ple_128.020
Leben; das Haideröslein und das im Wald gefundene Blümchen spiegeln ple_128.021
Mädchenseele und Frauengeschicke wieder. — Den Geist volkstümlicher ple_128.022
Symbolik wissen die Romantiker, zumal die jüngeren, wohl zu treffen („In ple_128.023
einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad“), und Heine hat besonders ple_128.024
mit Bildern des Meeres und seiner Bewegung die lyrische Symbolik bereichert.
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Der eigentümlichste Reiz dieser Darstellungsart besteht nun darin, daß ple_128.027
die symbolische Bedeutung abwechselnd bald hinter dem Bilde selbst ple_128.028
zurücktritt, bald wieder stärker zum Bewußtsein kommt. In Mahomets ple_128.029
Gesang z. B. läßt sich dieser Wechsel deutlich verfolgen. Im Gesang der ple_128.030
Geister über den Wassern tritt der gedankenhafte Sinn des Gedichtes, den ple_128.031
wir freilich schon im Verlauf der Schilderung immer deutlicher ahnen, erst ple_128.032
am Schluß hervor, und mit besonders überraschender Anmut erfolgt die ple_128.033
Wendung vom rein Bildlichen zum Sinnbildlichen in folgenden Versen ple_128.034
Heines: ple_128.035
Es ziehen die brausenden Wellen ple_128.036
Wohl nach dem Strand; ple_128.037
Sie schwellen und zerschellen ple_128.038
Wohl auf dem Sand.
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Sie kommen groß und kräftig, ple_128.102
Ohn' Unterlaß; ple_128.103
Sie werden endlich heftig — ple_128.104
Was hilft uns das?
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Umgekehrt richtet Gottfried Keller in einem ebenso graziösen wie tiefsinnigen ple_128.106
kleinen Gedicht die Spannung auf einen Gedanken, den er dann ple_128.107
mit einer nicht minder überraschenden Wendung nur symbolisch ahnungsvoll ple_128.108
ausdrückt:
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