Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_120.001 ple_120.004 ple_120.027 ple_120.036 ple_120.001 ple_120.004 ple_120.027 ple_120.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0134" n="120"/><lb n="ple_120.001"/> des Glücks an Verluste, die er selbst erlebt und erlitten hat — <lb n="ple_120.002"/> wenn er nicht etwa das Gedicht als philologisch geschulter Literarhistoriker <lb n="ple_120.003"/> betrachtet.</p> <p><lb n="ple_120.004"/> Nun ist freilich auch das Gefühlserlebnis des Dichters stets durch <lb n="ple_120.005"/> einen äußeren Vorgang angeregt, sei es, daß ein solcher tief in sein <lb n="ple_120.006"/> Schicksal eingegriffen hat, sei es, daß er nur ein flüchtiges Gekräusel im <lb n="ple_120.007"/> Flusse des Alltagslebens darstellt, sei es ein Spaziergang oder ein Bruch <lb n="ple_120.008"/> mit der Geliebten. Aber eben dies ist das Charakteristische für die lyrische <lb n="ple_120.009"/> Gestaltung, daß das äußere Erlebnis nur in seiner Wirkung auf das <lb n="ple_120.010"/> Innenleben erscheint. Die Einzelheiten werden ausgemerzt, die bestimmten <lb n="ple_120.011"/> Umrisse aufgelöst. Wo das Gefühl sich in dieser Weise von dem bestimmten <lb n="ple_120.012"/> Vorstellungsinhalt, durch den es erregt ist, losgelöst hat und den <lb n="ple_120.013"/> einzelnen Eindruck überdauert oder überwiegt, da sprechen wir von <lb n="ple_120.014"/> <hi rendition="#g">Stimmung.</hi> Stimmung zu erwecken ist also das eigentliche Wesen der <lb n="ple_120.015"/> lyrischen Kunst. Was in den anderen Dichtungsgattungen nur eine Ingredienz <lb n="ple_120.016"/> der Wirkung, das ist hier letzter Zweck. Während die epische <lb n="ple_120.017"/> und dramatische Kunst in der plastisch scharfen Gestaltung von Charakteren <lb n="ple_120.018"/> und Handlungen besteht, verlangt das Wesen der Lyrik gerade umgekehrt <lb n="ple_120.019"/> die Auflösung und Verwischung der äußeren Umrisse. Und eben hierdurch <lb n="ple_120.020"/> vollzieht sich zugleich jene Verallgemeinerung des Individuellen, die <lb n="ple_120.021"/> im Wesen jeder künstlerischen Darstellung liegt. Nur so viel äußeres und <lb n="ple_120.022"/> individuelles Erleben wird der echte Lyriker unmittelbar aussprechen und <lb n="ple_120.023"/> darstellen, wie nötig ist, damit wir den Gefühlsvorgang verstehen und nacherleben <lb n="ple_120.024"/> können. Aus dem individuellen Erlebnis wird auf diese Weise der <lb n="ple_120.025"/> typische Inhalt eines allgemein menschlichen Empfindens: hierauf beruht <lb n="ple_120.026"/> das Wesen aller lyrischen Dichtung.</p> <p><lb n="ple_120.027"/> Die literarhistorische Forschung kennt bis ins einzelne die individuell <lb n="ple_120.028"/> bestimmten Anlässe, die Gedichten, wie „Willkommen und Abschied“, <lb n="ple_120.029"/> „Wandrers Nachtlied“, oder der Marienbader Elegie zugrunde liegen: was ist <lb n="ple_120.030"/> davon in das Gedicht selbst übergegangen? Nichts als die unbestimmten <lb n="ple_120.031"/> und allgemeinen Umrisse von Situationen, die jeder so oder ähnlich erlebt <lb n="ple_120.032"/> hat oder erleben kann, die aber genügen, tiefe und leidenschaftliche Gefühle <lb n="ple_120.033"/> hervorzurufen und verständlich zu machen: Glück des Wiedersehens <lb n="ple_120.034"/> und Schmerz der Trennung, Sehnsucht nach Frieden und Seligkeit der Erinnerung.</p> <lb n="ple_120.035"/> <p><lb n="ple_120.036"/> Das Gesagte gilt gleichmäßig von den verschiedenen Anlässen und <lb n="ple_120.037"/> Eindrücken, welche Gefühlserlebnisse hervorrufen und damit zum Gegenstand <lb n="ple_120.038"/> lyrischer Gedichte werden können: Liebe und Natur, Religion und Vaterlandsliebe, <lb n="ple_120.039"/> überall ist es nur das Allgemeine und Gefühlsmäßige, das den <lb n="ple_120.040"/> Inhalt der Dichtung bildet. Ob das Gefühlserlebnis des Dichters durch <lb n="ple_120.041"/> die Sehnsucht nach der Geliebten oder den Anblick einer geliebten Landschaft, <lb n="ple_120.042"/> durch die Vergänglichkeit des Lenzes oder den Tod eines Freundes <lb n="ple_120.043"/> hervorgerufen wird, ob es in dem Verlangen nach Liebe oder in dem nach </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [120/0134]
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des Glücks an Verluste, die er selbst erlebt und erlitten hat — ple_120.002
wenn er nicht etwa das Gedicht als philologisch geschulter Literarhistoriker ple_120.003
betrachtet.
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Nun ist freilich auch das Gefühlserlebnis des Dichters stets durch ple_120.005
einen äußeren Vorgang angeregt, sei es, daß ein solcher tief in sein ple_120.006
Schicksal eingegriffen hat, sei es, daß er nur ein flüchtiges Gekräusel im ple_120.007
Flusse des Alltagslebens darstellt, sei es ein Spaziergang oder ein Bruch ple_120.008
mit der Geliebten. Aber eben dies ist das Charakteristische für die lyrische ple_120.009
Gestaltung, daß das äußere Erlebnis nur in seiner Wirkung auf das ple_120.010
Innenleben erscheint. Die Einzelheiten werden ausgemerzt, die bestimmten ple_120.011
Umrisse aufgelöst. Wo das Gefühl sich in dieser Weise von dem bestimmten ple_120.012
Vorstellungsinhalt, durch den es erregt ist, losgelöst hat und den ple_120.013
einzelnen Eindruck überdauert oder überwiegt, da sprechen wir von ple_120.014
Stimmung. Stimmung zu erwecken ist also das eigentliche Wesen der ple_120.015
lyrischen Kunst. Was in den anderen Dichtungsgattungen nur eine Ingredienz ple_120.016
der Wirkung, das ist hier letzter Zweck. Während die epische ple_120.017
und dramatische Kunst in der plastisch scharfen Gestaltung von Charakteren ple_120.018
und Handlungen besteht, verlangt das Wesen der Lyrik gerade umgekehrt ple_120.019
die Auflösung und Verwischung der äußeren Umrisse. Und eben hierdurch ple_120.020
vollzieht sich zugleich jene Verallgemeinerung des Individuellen, die ple_120.021
im Wesen jeder künstlerischen Darstellung liegt. Nur so viel äußeres und ple_120.022
individuelles Erleben wird der echte Lyriker unmittelbar aussprechen und ple_120.023
darstellen, wie nötig ist, damit wir den Gefühlsvorgang verstehen und nacherleben ple_120.024
können. Aus dem individuellen Erlebnis wird auf diese Weise der ple_120.025
typische Inhalt eines allgemein menschlichen Empfindens: hierauf beruht ple_120.026
das Wesen aller lyrischen Dichtung.
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Die literarhistorische Forschung kennt bis ins einzelne die individuell ple_120.028
bestimmten Anlässe, die Gedichten, wie „Willkommen und Abschied“, ple_120.029
„Wandrers Nachtlied“, oder der Marienbader Elegie zugrunde liegen: was ist ple_120.030
davon in das Gedicht selbst übergegangen? Nichts als die unbestimmten ple_120.031
und allgemeinen Umrisse von Situationen, die jeder so oder ähnlich erlebt ple_120.032
hat oder erleben kann, die aber genügen, tiefe und leidenschaftliche Gefühle ple_120.033
hervorzurufen und verständlich zu machen: Glück des Wiedersehens ple_120.034
und Schmerz der Trennung, Sehnsucht nach Frieden und Seligkeit der Erinnerung.
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Das Gesagte gilt gleichmäßig von den verschiedenen Anlässen und ple_120.037
Eindrücken, welche Gefühlserlebnisse hervorrufen und damit zum Gegenstand ple_120.038
lyrischer Gedichte werden können: Liebe und Natur, Religion und Vaterlandsliebe, ple_120.039
überall ist es nur das Allgemeine und Gefühlsmäßige, das den ple_120.040
Inhalt der Dichtung bildet. Ob das Gefühlserlebnis des Dichters durch ple_120.041
die Sehnsucht nach der Geliebten oder den Anblick einer geliebten Landschaft, ple_120.042
durch die Vergänglichkeit des Lenzes oder den Tod eines Freundes ple_120.043
hervorgerufen wird, ob es in dem Verlangen nach Liebe oder in dem nach
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