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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Musik ist also nicht im ganzen Umfange zutreffend: dort ist ein anderes ple_115.002
Ende als die Auflösung in einen harmonischen Schlußakkord künstlerisch ple_115.003
einfach unmöglich. Aber immerhin wird man auch von der Dichtung sagen ple_115.004
müssen, daß der Abschluß auf einer Dissonanz nur selten und ausnahmsweise ple_115.005
künstlerisch wirkt und jedenfalls nur in lyrischen Gedichten kleineren ple_115.006
und mittleren Umfangs denkbar ist, wenn sie eben ganz auf die Hervorhebung ple_115.007
des Kontrastzustandes gestellt sind. Im allgemeinen wird auch hier ple_115.008
eine Lösung der Disharmonie, eine Aufhebung des Kontrasts erforderlich ple_115.009
sein, wenn uns das Gedicht befriedigt entlassen soll. Dies geschieht nun ple_115.010
am einfachsten dadurch, daß eine der gegensätzlichen Stimmungen oder ple_115.011
Vorstellungen die andere besiegt und das Feld behauptet. So tritt in ple_115.012
Jägers Abendlied der Gedanke an die Geliebte siegreich und beruhigend ple_115.013
aus dem Zwiespalt der Leidenschaft hervor, so entläßt uns das Gedicht An ple_115.014
den Mond mit dem vollen Gefühl der schmerzlichen Seligkeit, welche die ple_115.015
endlich einmal gelöste Seele empfindet. Besonders wirkungsvoll und schön ple_115.016
ist es, wenn die Schlußwendung überraschend kommt und eine versöhnende ple_115.017
Kontrastvorstellung neu einführt oder doch plötzlich zur Deutlichkeit erhebt: ple_115.018
so in Goethes Seefahrt, wo die ruhige Festigkeit des Schiffers der ple_115.019
vorher geschilderten Erregung und Bewegung tröstlich gegenübersteht (die ple_115.020
gleiche Wendung wiederholt sich bei Uhland in König Karls Meerfahrt); ple_115.021
so, wenn Walter von der Vogelweide die Klage um den Verfall der Zeit ple_115.022
mit der Hoffnung auf die "liebe Reise über Meer" schließt; so weiter ausgeführt ple_115.023
in der Marienbader Elegie, wo nach dem leidenschaftlich bewegten ple_115.024
Mittelsatz die "Aussöhnung" in tief empfundenem und ergreifendem Kontrast ple_115.025
eintritt, -- freilich etwas äußerlich und zufällig eingeführt als Wirkung der ple_115.026
Musik. Innerlicher und tiefer ist die versöhnende Kontrastwendung in ple_115.027
Schillers Idealen; etwas künstlicher und nicht ganz so zwingend in den ple_115.028
Göttern Griechenlands.

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In all diesen Gedichten ist es leicht erklärlich, daß der Schluß befriedigend ple_115.030
wirkt, da eine lustvolle oder doch beruhigende Vorstellung die ple_115.031
entgegengesetzte verdrängt. Nun aber ist es eine auffallende Tatsache, daß ple_115.032
dies keineswegs immer notwendig ist. Man braucht gar nicht erst zu Gedichten ple_115.033
von der trostlosen Melancholie der Harfnerlieder hinabzusteigen: ple_115.034
fast jede Seite im Buche der Lieder und zahlreiche Gedichte Lenaus zeigen, ple_115.035
daß auch das Überwiegen eines schmerzlichen Affekts den künstlerisch befriedigenden ple_115.036
Abschluß herbeiführen kann. Es ist klar: wir verlangen von ple_115.037
einem lyrischen Gedicht nicht, daß es versöhnlich endet und uns mit einer ple_115.038
lustvollen Vorstellung zurückläßt; die künstlerische Befriedigung ist hier ple_115.039
nicht die Folge der Gefühle, die sich an den Inhalt des Dargestellten anknüpfen, ple_115.040
sie wird vielmehr durch die Form hervorgerufen. Es ist die ple_115.041
Kraft des Lyrikers, seinen und unseren Gefühlen Worte zu geben und ple_115.042
Rhythmus zu leihen; hierdurch erweckt er ästhetische Lust, und diese Lust ple_115.043
ist so groß, daß sie schmerzliche Empfindungen, die der Inhalt erregt,

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Musik ist also nicht im ganzen Umfange zutreffend: dort ist ein anderes ple_115.002
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einfach unmöglich. Aber immerhin wird man auch von der Dichtung sagen ple_115.004
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künstlerisch wirkt und jedenfalls nur in lyrischen Gedichten kleineren ple_115.006
und mittleren Umfangs denkbar ist, wenn sie eben ganz auf die Hervorhebung ple_115.007
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vorher geschilderten Erregung und Bewegung tröstlich gegenübersteht (die ple_115.020
gleiche Wendung wiederholt sich bei Uhland in König Karls Meerfahrt); ple_115.021
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Musik. Innerlicher und tiefer ist die versöhnende Kontrastwendung in ple_115.027
Schillers Idealen; etwas künstlicher und nicht ganz so zwingend in den ple_115.028
Göttern Griechenlands.

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In all diesen Gedichten ist es leicht erklärlich, daß der Schluß befriedigend ple_115.030
wirkt, da eine lustvolle oder doch beruhigende Vorstellung die ple_115.031
entgegengesetzte verdrängt. Nun aber ist es eine auffallende Tatsache, daß ple_115.032
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[115/0129] ple_115.001 Musik ist also nicht im ganzen Umfange zutreffend: dort ist ein anderes ple_115.002 Ende als die Auflösung in einen harmonischen Schlußakkord künstlerisch ple_115.003 einfach unmöglich. Aber immerhin wird man auch von der Dichtung sagen ple_115.004 müssen, daß der Abschluß auf einer Dissonanz nur selten und ausnahmsweise ple_115.005 künstlerisch wirkt und jedenfalls nur in lyrischen Gedichten kleineren ple_115.006 und mittleren Umfangs denkbar ist, wenn sie eben ganz auf die Hervorhebung ple_115.007 des Kontrastzustandes gestellt sind. Im allgemeinen wird auch hier ple_115.008 eine Lösung der Disharmonie, eine Aufhebung des Kontrasts erforderlich ple_115.009 sein, wenn uns das Gedicht befriedigt entlassen soll. Dies geschieht nun ple_115.010 am einfachsten dadurch, daß eine der gegensätzlichen Stimmungen oder ple_115.011 Vorstellungen die andere besiegt und das Feld behauptet. So tritt in ple_115.012 Jägers Abendlied der Gedanke an die Geliebte siegreich und beruhigend ple_115.013 aus dem Zwiespalt der Leidenschaft hervor, so entläßt uns das Gedicht An ple_115.014 den Mond mit dem vollen Gefühl der schmerzlichen Seligkeit, welche die ple_115.015 endlich einmal gelöste Seele empfindet. Besonders wirkungsvoll und schön ple_115.016 ist es, wenn die Schlußwendung überraschend kommt und eine versöhnende ple_115.017 Kontrastvorstellung neu einführt oder doch plötzlich zur Deutlichkeit erhebt: ple_115.018 so in Goethes Seefahrt, wo die ruhige Festigkeit des Schiffers der ple_115.019 vorher geschilderten Erregung und Bewegung tröstlich gegenübersteht (die ple_115.020 gleiche Wendung wiederholt sich bei Uhland in König Karls Meerfahrt); ple_115.021 so, wenn Walter von der Vogelweide die Klage um den Verfall der Zeit ple_115.022 mit der Hoffnung auf die „liebe Reise über Meer“ schließt; so weiter ausgeführt ple_115.023 in der Marienbader Elegie, wo nach dem leidenschaftlich bewegten ple_115.024 Mittelsatz die „Aussöhnung“ in tief empfundenem und ergreifendem Kontrast ple_115.025 eintritt, — freilich etwas äußerlich und zufällig eingeführt als Wirkung der ple_115.026 Musik. Innerlicher und tiefer ist die versöhnende Kontrastwendung in ple_115.027 Schillers Idealen; etwas künstlicher und nicht ganz so zwingend in den ple_115.028 Göttern Griechenlands. ple_115.029 In all diesen Gedichten ist es leicht erklärlich, daß der Schluß befriedigend ple_115.030 wirkt, da eine lustvolle oder doch beruhigende Vorstellung die ple_115.031 entgegengesetzte verdrängt. Nun aber ist es eine auffallende Tatsache, daß ple_115.032 dies keineswegs immer notwendig ist. Man braucht gar nicht erst zu Gedichten ple_115.033 von der trostlosen Melancholie der Harfnerlieder hinabzusteigen: ple_115.034 fast jede Seite im Buche der Lieder und zahlreiche Gedichte Lenaus zeigen, ple_115.035 daß auch das Überwiegen eines schmerzlichen Affekts den künstlerisch befriedigenden ple_115.036 Abschluß herbeiführen kann. Es ist klar: wir verlangen von ple_115.037 einem lyrischen Gedicht nicht, daß es versöhnlich endet und uns mit einer ple_115.038 lustvollen Vorstellung zurückläßt; die künstlerische Befriedigung ist hier ple_115.039 nicht die Folge der Gefühle, die sich an den Inhalt des Dargestellten anknüpfen, ple_115.040 sie wird vielmehr durch die Form hervorgerufen. Es ist die ple_115.041 Kraft des Lyrikers, seinen und unseren Gefühlen Worte zu geben und ple_115.042 Rhythmus zu leihen; hierdurch erweckt er ästhetische Lust, und diese Lust ple_115.043 ist so groß, daß sie schmerzliche Empfindungen, die der Inhalt erregt,

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/129>, abgerufen am 22.11.2024.