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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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meisten der Schluß des Wallensteins, wo der ahnungslose Held all den ple_113.002
Warnungsstimmen Hohn spricht, denen er früher nur zu oft und lange gelauscht ple_113.003
hat; tief ergreifend wirkt es auch, wenn in der Braut von Messina ple_113.004
die Fürstin-Mutter in dem Augenblick, wo sich alles zur Katastrophe ihres ple_113.005
Hauses zusammenzieht, mit stolzer Überhebung die Worte der Niobe ausruft: ple_113.006

Lebt irgend eine ple_113.007
Von allen Weibern, die geboren haben, ple_113.008
Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche?

ple_113.009
Aber selbst die Kontrastwirkung würde, wenn sie sich stets in gleichen ple_113.010
Formen erneuerte oder in ähnlichen wiederholte, nicht vor Ermüdung ple_113.011
schützen. Denn nach einem psychologischen Gesetz, das nicht minder unabänderlich ple_113.012
ist wie das des Kontrastes selbst, stumpft sich auf die Dauer ple_113.013
jede Wirkung ab, wird mit der Erneuerung schwächer und verflüchtigt sich ple_113.014
endlich ganz. Daher bedarf jedes größere Gedicht als eines weiteren ple_113.015
wesentlichen Kunstmittels der Steigerung, ja, man kann sagen, daß hierin ple_113.016
das eigentlich herrschende Prinzip für den Aufbau einer Dichtung liegt. ple_113.017
Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise ple_113.018
hervor: in der Lyrik als Erhöhung oder auch Vertiefung der subjektiven Stimmung ple_113.019
-- man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang --, ple_113.020
im Epos und Drama als Steigerung der dargestellten Affekte und Erhöhung ple_113.021
der Spannung auf den weiteren Ablauf der Handlung. Besonders deutliche ple_113.022
Beispiele sind das Wachsen der Eifersucht in Shakespeares Othello, der ple_113.023
beginnende und zunehmende Wahnsinn im Lear. In jedem Drama muß ple_113.024
sich der Affekt bis zum Eintritt der Katastrophe steigern, wie denn in jeder ple_113.025
Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und ple_113.026
Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen.1) In allen Gattungen ple_113.027
sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst, ple_113.028
durch deren schärferes und entschiedeneres Hervortreten die Steigerung ple_113.029
herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind ple_113.030
auf lyrischem Gebiete Goethes "Trost in Tränen", Heines "Gestrandet", ple_113.031
auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen ple_113.032
desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken ple_113.033
Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung ple_113.034
und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore, ple_113.035
Goethes Erlkönig und noch dramatischer in Der Gott und die Bajadere; ple_113.036
auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer ple_113.037
Steigerung.

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Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs, ple_113.039
wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn

1) ple_113.040
Daher ist Gustav Freytags Ausdruck "Fallende (sinkende) Handlung" (Technik ple_113.041
des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite ple_113.042
Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet.

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Lebt irgend eine ple_113.007
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Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche?

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Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise ple_113.018
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— man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang —, ple_113.020
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Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und ple_113.026
Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen.1) In allen Gattungen ple_113.027
sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst, ple_113.028
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herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind ple_113.030
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auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen ple_113.032
desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken ple_113.033
Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung ple_113.034
und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore, ple_113.035
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auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer ple_113.037
Steigerung.

ple_113.038
Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs, ple_113.039
wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn

1) ple_113.040
Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik ple_113.041
des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite ple_113.042
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[113/0127] ple_113.001 meisten der Schluß des Wallensteins, wo der ahnungslose Held all den ple_113.002 Warnungsstimmen Hohn spricht, denen er früher nur zu oft und lange gelauscht ple_113.003 hat; tief ergreifend wirkt es auch, wenn in der Braut von Messina ple_113.004 die Fürstin-Mutter in dem Augenblick, wo sich alles zur Katastrophe ihres ple_113.005 Hauses zusammenzieht, mit stolzer Überhebung die Worte der Niobe ausruft: ple_113.006 Lebt irgend eine ple_113.007 Von allen Weibern, die geboren haben, ple_113.008 Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche? ple_113.009 Aber selbst die Kontrastwirkung würde, wenn sie sich stets in gleichen ple_113.010 Formen erneuerte oder in ähnlichen wiederholte, nicht vor Ermüdung ple_113.011 schützen. Denn nach einem psychologischen Gesetz, das nicht minder unabänderlich ple_113.012 ist wie das des Kontrastes selbst, stumpft sich auf die Dauer ple_113.013 jede Wirkung ab, wird mit der Erneuerung schwächer und verflüchtigt sich ple_113.014 endlich ganz. Daher bedarf jedes größere Gedicht als eines weiteren ple_113.015 wesentlichen Kunstmittels der Steigerung, ja, man kann sagen, daß hierin ple_113.016 das eigentlich herrschende Prinzip für den Aufbau einer Dichtung liegt. ple_113.017 Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise ple_113.018 hervor: in der Lyrik als Erhöhung oder auch Vertiefung der subjektiven Stimmung ple_113.019 — man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang —, ple_113.020 im Epos und Drama als Steigerung der dargestellten Affekte und Erhöhung ple_113.021 der Spannung auf den weiteren Ablauf der Handlung. Besonders deutliche ple_113.022 Beispiele sind das Wachsen der Eifersucht in Shakespeares Othello, der ple_113.023 beginnende und zunehmende Wahnsinn im Lear. In jedem Drama muß ple_113.024 sich der Affekt bis zum Eintritt der Katastrophe steigern, wie denn in jeder ple_113.025 Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und ple_113.026 Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen. 1) In allen Gattungen ple_113.027 sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst, ple_113.028 durch deren schärferes und entschiedeneres Hervortreten die Steigerung ple_113.029 herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind ple_113.030 auf lyrischem Gebiete Goethes „Trost in Tränen“, Heines „Gestrandet“, ple_113.031 auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen ple_113.032 desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken ple_113.033 Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung ple_113.034 und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore, ple_113.035 Goethes Erlkönig und noch dramatischer in Der Gott und die Bajadere; ple_113.036 auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer ple_113.037 Steigerung. ple_113.038 Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs, ple_113.039 wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn 1) ple_113.040 Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik ple_113.041 des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite ple_113.042 Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/127>, abgerufen am 22.11.2024.