Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_112.001 ple_112.024 ple_112.001 ple_112.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0126" n="112"/><lb n="ple_112.001"/> wesentlich Kontrastwirkung, daher auch um so wirksamer, je schärfer und <lb n="ple_112.002"/> unvermittelter die Gegensätze sind. Die Personen jeder tieferen Dichtung <lb n="ple_112.003"/> stehen einander nicht nur äußerlich gegenüber, durch Umstände und Zufälle <lb n="ple_112.004"/> getrennt und verfeindet, sondern sie sind durch innere, im Wesen der <lb n="ple_112.005"/> Individuen begründete Gegensätze voneinander geschieden, ja auch diejenigen, <lb n="ple_112.006"/> die im Streit der Parteien auf derselben Seite stehen, die einander <lb n="ple_112.007"/> befreundet sind und das gleiche Schicksal erleiden, müssen in ihren Eigenschaften <lb n="ple_112.008"/> kontrastieren, wenn sie uns nicht auf die Dauer ermüden sollen. <lb n="ple_112.009"/> In der Jungfrau von Orleans z. B. ist es eine Schwäche, daß die französischen <lb n="ple_112.010"/> Ritter gar nicht oder doch nur unbedeutend voneinander abstechen <lb n="ple_112.011"/> und alle gleich hingebungsvoll und ritterlich sind. In dieser Hinsicht <lb n="ple_112.012"/> steht die Ilias weit hinter dem Nibelungenlied zurück. Ein großer <lb n="ple_112.013"/> Teil der homerischen Helden sind nur durch Alter oder dem Grad ihrer <lb n="ple_112.014"/> Körperstärke voneinander unterschieden und Gegensätze von so leuchtender <lb n="ple_112.015"/> Farbenkraft wie Hagen und Siegfried, Volker und Rüdiger wird man <lb n="ple_112.016"/> dort vergeblich suchen. Die individuelle Eigenart des Helden wird durch <lb n="ple_112.017"/> kein anderes Mittel so deutlich, wie durch den Kontrast mit Personen, die <lb n="ple_112.018"/> neben ihm stehen und jeden Augenblick zum Vergleich herausfordern. Daher <lb n="ple_112.019"/> stellt Sophokles neben seine Antigone ihre Schwester Ismene, neben <lb n="ple_112.020"/> Elektra die weichere Chrysothemis; daher rückt Shakespeare die Nebenperson <lb n="ple_112.021"/> des Cassius in ein nicht minder helles Licht wie seinen Helden <lb n="ple_112.022"/> Brutus, und Goethe stellt seinem Egmont nicht nur den finsteren Gegner <lb n="ple_112.023"/> Alba, sondern auch den besonnenen Freund Oranien gegenüber.</p> <p><lb n="ple_112.024"/> Das Drama ist überhaupt, wie wir späterhin sehen werden, das Kunstwerk <lb n="ple_112.025"/> des Kontrasts in besonderem Sinne und mehr als alle übrigen Dichtungsformen. <lb n="ple_112.026"/> Denn im Epos werden die gegensätzlichen Wirkungen durch <lb n="ple_112.027"/> die Kunst des objektiven Erzählers immer bis zu einem gewissen Grade <lb n="ple_112.028"/> gemildert und ausgeglichen; im Drama aber stehen sie schroff und unvermittelt <lb n="ple_112.029"/> nebeneinander, und man darf hier tatsächlich sagen, daß alle <lb n="ple_112.030"/> Wirkung Kontrastwirkung ist. So ist denn auch die <hi rendition="#g">Sprache</hi> des Dramas <lb n="ple_112.031"/> abweichend von der des Epos durchaus auf die Antithese gestellt; die <lb n="ple_112.032"/> Gegensätze der <hi rendition="#g">Stimmung</hi> kommen in der dramatischen Kunst, die hierin <lb n="ple_112.033"/> der Lyrik näher steht als das Epos, nicht selten stark zur Geltung und <lb n="ple_112.034"/> Wirkung; endlich beruhen auch eine Anzahl spezifisch dramatischer Kunstmittel <lb n="ple_112.035"/> auf Kontrastwirkung. So besonders die „<hi rendition="#g">tragische Illusion</hi>“, wie <lb n="ple_112.036"/> Gustav Freytag sie nennt; der Wahn des Helden, der sich im Glücke oder <lb n="ple_112.037"/> zeinem Ziele nahe glaubt, während er in Wirklichkeit bereits dem unvermeidlichen <lb n="ple_112.038"/> Untergang preisgegeben ist. Berühmt als Beispiel ist der <lb n="ple_112.039"/> vorletzte Chor im König Ödipus, nicht minder der in der Antigone: beide <lb n="ple_112.040"/> geben unmittelbar vor dem Hereinbrechen der Katastrophe der Zuversicht <lb n="ple_112.041"/> auf ein glückliches Ende Ausdruck. Unter den neueren Tragikern versteht <lb n="ple_112.042"/> keiner im gleichen Maße wie Schiller durch den Gegensatz zwischen Wahn <lb n="ple_112.043"/> und Wirklichkeit die tragische Stimmung zu vertiefen. Dies zeigt am </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [112/0126]
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wesentlich Kontrastwirkung, daher auch um so wirksamer, je schärfer und ple_112.002
unvermittelter die Gegensätze sind. Die Personen jeder tieferen Dichtung ple_112.003
stehen einander nicht nur äußerlich gegenüber, durch Umstände und Zufälle ple_112.004
getrennt und verfeindet, sondern sie sind durch innere, im Wesen der ple_112.005
Individuen begründete Gegensätze voneinander geschieden, ja auch diejenigen, ple_112.006
die im Streit der Parteien auf derselben Seite stehen, die einander ple_112.007
befreundet sind und das gleiche Schicksal erleiden, müssen in ihren Eigenschaften ple_112.008
kontrastieren, wenn sie uns nicht auf die Dauer ermüden sollen. ple_112.009
In der Jungfrau von Orleans z. B. ist es eine Schwäche, daß die französischen ple_112.010
Ritter gar nicht oder doch nur unbedeutend voneinander abstechen ple_112.011
und alle gleich hingebungsvoll und ritterlich sind. In dieser Hinsicht ple_112.012
steht die Ilias weit hinter dem Nibelungenlied zurück. Ein großer ple_112.013
Teil der homerischen Helden sind nur durch Alter oder dem Grad ihrer ple_112.014
Körperstärke voneinander unterschieden und Gegensätze von so leuchtender ple_112.015
Farbenkraft wie Hagen und Siegfried, Volker und Rüdiger wird man ple_112.016
dort vergeblich suchen. Die individuelle Eigenart des Helden wird durch ple_112.017
kein anderes Mittel so deutlich, wie durch den Kontrast mit Personen, die ple_112.018
neben ihm stehen und jeden Augenblick zum Vergleich herausfordern. Daher ple_112.019
stellt Sophokles neben seine Antigone ihre Schwester Ismene, neben ple_112.020
Elektra die weichere Chrysothemis; daher rückt Shakespeare die Nebenperson ple_112.021
des Cassius in ein nicht minder helles Licht wie seinen Helden ple_112.022
Brutus, und Goethe stellt seinem Egmont nicht nur den finsteren Gegner ple_112.023
Alba, sondern auch den besonnenen Freund Oranien gegenüber.
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Das Drama ist überhaupt, wie wir späterhin sehen werden, das Kunstwerk ple_112.025
des Kontrasts in besonderem Sinne und mehr als alle übrigen Dichtungsformen. ple_112.026
Denn im Epos werden die gegensätzlichen Wirkungen durch ple_112.027
die Kunst des objektiven Erzählers immer bis zu einem gewissen Grade ple_112.028
gemildert und ausgeglichen; im Drama aber stehen sie schroff und unvermittelt ple_112.029
nebeneinander, und man darf hier tatsächlich sagen, daß alle ple_112.030
Wirkung Kontrastwirkung ist. So ist denn auch die Sprache des Dramas ple_112.031
abweichend von der des Epos durchaus auf die Antithese gestellt; die ple_112.032
Gegensätze der Stimmung kommen in der dramatischen Kunst, die hierin ple_112.033
der Lyrik näher steht als das Epos, nicht selten stark zur Geltung und ple_112.034
Wirkung; endlich beruhen auch eine Anzahl spezifisch dramatischer Kunstmittel ple_112.035
auf Kontrastwirkung. So besonders die „tragische Illusion“, wie ple_112.036
Gustav Freytag sie nennt; der Wahn des Helden, der sich im Glücke oder ple_112.037
zeinem Ziele nahe glaubt, während er in Wirklichkeit bereits dem unvermeidlichen ple_112.038
Untergang preisgegeben ist. Berühmt als Beispiel ist der ple_112.039
vorletzte Chor im König Ödipus, nicht minder der in der Antigone: beide ple_112.040
geben unmittelbar vor dem Hereinbrechen der Katastrophe der Zuversicht ple_112.041
auf ein glückliches Ende Ausdruck. Unter den neueren Tragikern versteht ple_112.042
keiner im gleichen Maße wie Schiller durch den Gegensatz zwischen Wahn ple_112.043
und Wirklichkeit die tragische Stimmung zu vertiefen. Dies zeigt am
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