Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_110.001 ple_110.005 ple_110.009 ple_110.021 ple_110.038 1) ple_110.041
Hierüber hat Viehoff, Poetik S. 24 ff., eine Anzahl treffender Bemerkungen ple_110.042 gemacht. ple_110.001 ple_110.005 ple_110.009 ple_110.021 ple_110.038 1) ple_110.041
Hierüber hat Viehoff, Poetik S. 24 ff., eine Anzahl treffender Bemerkungen ple_110.042 gemacht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0124" n="110"/><lb n="ple_110.001"/> berechtigt, wenn ein Dichter wie Shakespeare seine Personen in <lb n="ple_110.002"/> zweierlei Sprachen sprechen läßt: die Vornehmen im deklamatorischen Stil <lb n="ple_110.003"/> der Renaissance, das Volk in der naturalistisch wiedergegebenen Redeweise <lb n="ple_110.004"/> der Wirklichkeit.</p> <p><lb n="ple_110.005"/> Diese besonderen Fragen werden die späteren Untersuchungen zu beantworten <lb n="ple_110.006"/> haben. Wenden wir uns für jetzt zu der Aufgabe zurück, die <lb n="ple_110.007"/> Prinzipien dichterischer Komposition in ihrer allgemeinen Gestalt zu betrachten.</p> <lb n="ple_110.008"/> <p><lb n="ple_110.009"/> Das Gesetz der Einheit erhält einen tieferen Sinn dadurch, daß ihm <lb n="ple_110.010"/> ein zweites von nicht geringerer Tragweite gegenüber und zur Seite tritt: <lb n="ple_110.011"/> das <hi rendition="#g">Prinzip des Kontrastes.</hi> Eine allgemeine psychologische Tatsache <lb n="ple_110.012"/> ist es, daß jede Empfindung, jede Anschauung intensiver und deutlicher <lb n="ple_110.013"/> wird, wenn ihr eine entgegengesetzte, aber der gleichen Kategorie angehörige, <lb n="ple_110.014"/> unmittelbar folgt; und hiermit verbindet sich in den meisten <lb n="ple_110.015"/> Fällen ein Lustgefühl ästhetischer Art. So ist nicht nur in der Poesie, sondern <lb n="ple_110.016"/> auf dem Gesamtgebiete der Kunst der Kontrast ein Mittel zur stärkeren <lb n="ple_110.017"/> Hervorhebung, zur deutlicheren Veranschaulichung des Dargestellten. <lb n="ple_110.018"/> Wie die Farben auf dem Gemälde, so heben sich Stimmungen und Gestalten <lb n="ple_110.019"/> in der Dichtung schärfer und wirkungsvoller voneinander ab, wenn <lb n="ple_110.020"/> sie in einem Gegensatz stehen, als wenn sie verwandten Charakter tragen.</p> <p><lb n="ple_110.021"/> Aber man darf weiter gehen. Ein nicht minder allgemeines psychologisches <lb n="ple_110.022"/> Gesetz ist es, daß jedes, insbesondere aber jedes ästhetische Lustgefühl, <lb n="ple_110.023"/> lebhafter empfunden wird, wenn ihm eine Unlustempfindung voraufgegangen <lb n="ple_110.024"/> ist, ja, daß jeder ästhetische Genuß nur dann andauernd und kraftvoll <lb n="ple_110.025"/> ist, wenn ihm Unlustempfindungen kontrastierend beigemischt sind. Ob <lb n="ple_110.026"/> in der Tat, wie Fechner es ausdrückt, „eine metaphysische Unmöglichkeit <lb n="ple_110.027"/> vorliegt, daß Quellen der Lust ohne solche der Unlust in der Welt bestehen“, <lb n="ple_110.028"/> dürfen wir dahingestellt sein lassen; aber sicher ist und von höchster Bedeutung, <lb n="ple_110.029"/> daß die Poesie den Genuß, den sie bereitet, zum Teil aus Unlustgefühlen <lb n="ple_110.030"/> schöpft; ja, daß sie die Unlust braucht, um auf die Dauer Lust <lb n="ple_110.031"/> zu erregen.<note xml:id="ple_110_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_110.041"/> Hierüber hat <hi rendition="#k">Viehoff,</hi> Poetik S. 24 ff., eine Anzahl treffender Bemerkungen <lb n="ple_110.042"/> gemacht.</note> In diesem Sinne ist die Kontrastwirkung mehr als ein bloßes <lb n="ple_110.032"/> Kunstmittel, das der Dichter instinktiv oder bewußt zur Verstärkung seiner <lb n="ple_110.033"/> Wirkungen verwendet: man darf vielmehr sagen, daß nahezu alle dichterische <lb n="ple_110.034"/> Kunst auf der Hervorhebung und dem Ausgleich von Gegensätzen <lb n="ple_110.035"/> beruht, ähnlich wie alle Farbenwirkung in der Malerei auf einem Nebeneinander, <lb n="ple_110.036"/> jede Akkordfolge in der Musik auf einem Nacheinander von <lb n="ple_110.037"/> Kontrastwirkungen begründet ist.</p> <p><lb n="ple_110.038"/> Schon in der Lyrik sind Lieder und Gedichte, die ganz aus einer <lb n="ple_110.039"/> einfachen Stimmung heraus empfunden sind und in denen ein Kontrast <lb n="ple_110.040"/> nur gelegentlich oder gar nicht eingeführt ist, verhältnismäßig selten. Goethes </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0124]
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berechtigt, wenn ein Dichter wie Shakespeare seine Personen in ple_110.002
zweierlei Sprachen sprechen läßt: die Vornehmen im deklamatorischen Stil ple_110.003
der Renaissance, das Volk in der naturalistisch wiedergegebenen Redeweise ple_110.004
der Wirklichkeit.
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Diese besonderen Fragen werden die späteren Untersuchungen zu beantworten ple_110.006
haben. Wenden wir uns für jetzt zu der Aufgabe zurück, die ple_110.007
Prinzipien dichterischer Komposition in ihrer allgemeinen Gestalt zu betrachten.
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Das Gesetz der Einheit erhält einen tieferen Sinn dadurch, daß ihm ple_110.010
ein zweites von nicht geringerer Tragweite gegenüber und zur Seite tritt: ple_110.011
das Prinzip des Kontrastes. Eine allgemeine psychologische Tatsache ple_110.012
ist es, daß jede Empfindung, jede Anschauung intensiver und deutlicher ple_110.013
wird, wenn ihr eine entgegengesetzte, aber der gleichen Kategorie angehörige, ple_110.014
unmittelbar folgt; und hiermit verbindet sich in den meisten ple_110.015
Fällen ein Lustgefühl ästhetischer Art. So ist nicht nur in der Poesie, sondern ple_110.016
auf dem Gesamtgebiete der Kunst der Kontrast ein Mittel zur stärkeren ple_110.017
Hervorhebung, zur deutlicheren Veranschaulichung des Dargestellten. ple_110.018
Wie die Farben auf dem Gemälde, so heben sich Stimmungen und Gestalten ple_110.019
in der Dichtung schärfer und wirkungsvoller voneinander ab, wenn ple_110.020
sie in einem Gegensatz stehen, als wenn sie verwandten Charakter tragen.
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Aber man darf weiter gehen. Ein nicht minder allgemeines psychologisches ple_110.022
Gesetz ist es, daß jedes, insbesondere aber jedes ästhetische Lustgefühl, ple_110.023
lebhafter empfunden wird, wenn ihm eine Unlustempfindung voraufgegangen ple_110.024
ist, ja, daß jeder ästhetische Genuß nur dann andauernd und kraftvoll ple_110.025
ist, wenn ihm Unlustempfindungen kontrastierend beigemischt sind. Ob ple_110.026
in der Tat, wie Fechner es ausdrückt, „eine metaphysische Unmöglichkeit ple_110.027
vorliegt, daß Quellen der Lust ohne solche der Unlust in der Welt bestehen“, ple_110.028
dürfen wir dahingestellt sein lassen; aber sicher ist und von höchster Bedeutung, ple_110.029
daß die Poesie den Genuß, den sie bereitet, zum Teil aus Unlustgefühlen ple_110.030
schöpft; ja, daß sie die Unlust braucht, um auf die Dauer Lust ple_110.031
zu erregen. 1) In diesem Sinne ist die Kontrastwirkung mehr als ein bloßes ple_110.032
Kunstmittel, das der Dichter instinktiv oder bewußt zur Verstärkung seiner ple_110.033
Wirkungen verwendet: man darf vielmehr sagen, daß nahezu alle dichterische ple_110.034
Kunst auf der Hervorhebung und dem Ausgleich von Gegensätzen ple_110.035
beruht, ähnlich wie alle Farbenwirkung in der Malerei auf einem Nebeneinander, ple_110.036
jede Akkordfolge in der Musik auf einem Nacheinander von ple_110.037
Kontrastwirkungen begründet ist.
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Schon in der Lyrik sind Lieder und Gedichte, die ganz aus einer ple_110.039
einfachen Stimmung heraus empfunden sind und in denen ein Kontrast ple_110.040
nur gelegentlich oder gar nicht eingeführt ist, verhältnismäßig selten. Goethes
1) ple_110.041
Hierüber hat Viehoff, Poetik S. 24 ff., eine Anzahl treffender Bemerkungen ple_110.042
gemacht.
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