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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Das sie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen. ple_091.002
Nicht hört der Himmel solche sündige ple_091.003
Gebete; schwer von Tränen, fallen sie ple_091.004
Zurück von seinem leuchtenden Gewölbe.
[Annotation]

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Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu ple_091.006
keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die ple_091.007
tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken? [Annotation]

Selbst die ple_091.008
berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit ple_091.009
hin nicht prüfen: ple_091.010
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, ple_091.011
Die eine will sich von der andern trennen; ple_091.012
Die eine hält, in derber Liebeslust, ple_091.013
Sich an die Welt, mit klammernden Organen; ple_091.014
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust ple_091.015
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
[Annotation]

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Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs ple_091.017
wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge ple_091.018
gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen ple_091.019
und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen! [Annotation]

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Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung ple_091.021
der Hyperbel erklärt werden.1) Die sprachliche Übertreibung bedeutet ple_091.022
stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins ple_091.023
Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: "O, daß ich ple_091.024
tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!" Sie ist also nur ple_091.025
dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb ple_091.026
erträglich, weil sie nichts weiter will als dies.

ple_091.027
Das Gleiche gilt endlich von der Personifikation. Sie ist nur ple_091.028
wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht, ple_091.029
von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine ple_091.030
rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des ple_091.031
Worts zum Ausdruck bringt: Walthers "frouwe Maze", "fro Unfuoge" kamen ple_091.032
seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während ple_091.033
der "her Stock", eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine ple_091.034
Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung ple_091.035
heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt, ple_091.036
zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie. ple_091.037

So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter ple_091.038
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder: ple_091.039
Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! ple_091.040
Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die ple_091.041
Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt, ple_091.042
Die Schätze des Olympus niederbringen.

1) ple_091.043
Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen "Psychologischen Studien ple_091.044
zur Sprachgeschichte", Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in ple_091.045
seine sogleich zu nennende "Poetik" aufgenommen.

ple_091.001

Das sie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen. ple_091.002
Nicht hört der Himmel solche sündige ple_091.003
Gebete; schwer von Tränen, fallen sie ple_091.004
Zurück von seinem leuchtenden Gewölbe.
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ple_091.005
Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu ple_091.006
keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die ple_091.007
tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken? [Annotation]

Selbst die ple_091.008
berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit ple_091.009
hin nicht prüfen: ple_091.010
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, ple_091.011
Die eine will sich von der andern trennen; ple_091.012
Die eine hält, in derber Liebeslust, ple_091.013
Sich an die Welt, mit klammernden Organen; ple_091.014
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust ple_091.015
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
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ple_091.016
Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs ple_091.017
wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge ple_091.018
gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen ple_091.019
und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen! [Annotation]

ple_091.020
Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung ple_091.021
der Hyperbel erklärt werden.1) Die sprachliche Übertreibung bedeutet ple_091.022
stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins ple_091.023
Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: „O, daß ich ple_091.024
tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!“ Sie ist also nur ple_091.025
dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb ple_091.026
erträglich, weil sie nichts weiter will als dies.

ple_091.027
Das Gleiche gilt endlich von der Personifikation. Sie ist nur ple_091.028
wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht, ple_091.029
von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine ple_091.030
rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des ple_091.031
Worts zum Ausdruck bringt: Walthers „frouwe Mâze“, „frô Unfuoge“ kamen ple_091.032
seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während ple_091.033
der „hêr Stock“, eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine ple_091.034
Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung ple_091.035
heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt, ple_091.036
zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie. ple_091.037

So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter ple_091.038
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder: ple_091.039
Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! ple_091.040
Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die ple_091.041
Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt, ple_091.042
Die Schätze des Olympus niederbringen.

1) ple_091.043
Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen „Psychologischen Studien ple_091.044
zur Sprachgeschichte“, Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in ple_091.045
seine sogleich zu nennende „Poetik“ aufgenommen.
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[91/0105] ple_091.001 Das sie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen. ple_091.002 Nicht hört der Himmel solche sündige ple_091.003 Gebete; schwer von Tränen, fallen sie ple_091.004 Zurück von seinem leuchtenden Gewölbe. Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0 ple_091.005 Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu ple_091.006 keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die ple_091.007 tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken? Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0 Selbst die ple_091.008 berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit ple_091.009 hin nicht prüfen: ple_091.010 Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, ple_091.011 Die eine will sich von der andern trennen; ple_091.012 Die eine hält, in derber Liebeslust, ple_091.013 Sich an die Welt, mit klammernden Organen; ple_091.014 Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust ple_091.015 Zu den Gefilden hoher Ahnen. ple_091.016 Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs ple_091.017 wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge ple_091.018 gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen ple_091.019 und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen! ple_091.020 Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung ple_091.021 der Hyperbel erklärt werden. 1) Die sprachliche Übertreibung bedeutet ple_091.022 stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins ple_091.023 Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: „O, daß ich ple_091.024 tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!“ Sie ist also nur ple_091.025 dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb ple_091.026 erträglich, weil sie nichts weiter will als dies. ple_091.027 Das Gleiche gilt endlich von der Personifikation. Sie ist nur ple_091.028 wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht, ple_091.029 von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine ple_091.030 rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des ple_091.031 Worts zum Ausdruck bringt: Walthers „frouwe Mâze“, „frô Unfuoge“ kamen ple_091.032 seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während ple_091.033 der „hêr Stock“, eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine ple_091.034 Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung ple_091.035 heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt, ple_091.036 zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie. ple_091.037 So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter ple_091.038 Des größten Vaters, endlich zu mir nieder: ple_091.039 Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! ple_091.040 Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die ple_091.041 Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt, ple_091.042 Die Schätze des Olympus niederbringen. 1) ple_091.043 Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen „Psychologischen Studien ple_091.044 zur Sprachgeschichte“, Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in ple_091.045 seine sogleich zu nennende „Poetik“ aufgenommen.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/105>, abgerufen am 25.11.2024.