Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.I. Abschnitt. VIII. Fragment. Einfluß der Einbildungskraft Achtes Fragment. Vom Einflusse der Einbildungskraft auf die menschliche Bildung. Fortsetzung. Riesen und Zwerge. Vielleicht gehören auch die seltsamen ungewöhnlich großen, und ungewöhnlich kleinen Gestalten, Denn obgleich wenige Riesen und Zwerge verhältnißweise als solche geboren werden, so ist Die Einbildungskraft durch Schmachten und Sehnen der Liebe bewegt -- oder Ein Kranker oder Sterbender z. E. sehnt sich nach einem entfernten Freunde -- der nichts Könnte *) Man heißt den einen Riesen, der über sechs Fuß hoch, und einen Zwerg den ausgewachsenen Mann, der
nicht vier Fuß hoch ist. I. Abſchnitt. VIII. Fragment. Einfluß der Einbildungskraft Achtes Fragment. Vom Einfluſſe der Einbildungskraft auf die menſchliche Bildung. Fortſetzung. Rieſen und Zwerge. Vielleicht gehoͤren auch die ſeltſamen ungewoͤhnlich großen, und ungewoͤhnlich kleinen Geſtalten, Denn obgleich wenige Rieſen und Zwerge verhaͤltnißweiſe als ſolche geboren werden, ſo iſt Die Einbildungskraft durch Schmachten und Sehnen der Liebe bewegt — oder Ein Kranker oder Sterbender z. E. ſehnt ſich nach einem entfernten Freunde — der nichts Koͤnnte *) Man heißt den einen Rieſen, der uͤber ſechs Fuß hoch, und einen Zwerg den ausgewachſenen Mann, der
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I. Abſchnitt. VIII. Fragment. Einfluß der Einbildungskraft
Achtes Fragment.
Vom Einfluſſe der Einbildungskraft auf die menſchliche Bildung.
Fortſetzung. Rieſen und Zwerge.
Vielleicht gehoͤren auch die ſeltſamen ungewoͤhnlich großen, und ungewoͤhnlich kleinen Geſtalten,
die wir Rieſen und Zwerge *) nennen — unter die Effekte getroffener und treffender Einbil-
dungskraft.
Denn obgleich wenige Rieſen und Zwerge verhaͤltnißweiſe als ſolche geboren werden, ſo iſt
dennoch zwar unbegreiflich aber moͤglich, daß ſich erſt in einem gewiſſen Alter die Natur gleichſam
ploͤtzlich erweitere oder zuſammenziehe. Die Einbildungskraft (man hat Beyſpiele davon) ſcheint
nicht nur auf die Gegenwart, ſondern auch auf die Abweſenheit, Entfernung und Zukunft wirken
zu koͤnnen. Vielleicht gehoͤren die Erſcheinungen Sterbender und Geſtorbener zu dieſer Art von
Wirkungen. Die Fakta, wie’s unzweifelhaft eine Menge giebt, als wahr voraus geſetzt — und nicht
nur die von wirklich Verſtorbenen, ſondern auch die vollkommen analogiſchen von noch Lebenden,
die entfernten Freunden erſchienen — dieſen an die Seite geſetzt — und dieſe hinwiederum mit allen
wahrhaften Anekdoten aus der Ahndungsgeſchichte wohl gereihet — wird es wohl viele philoſophi-
ſche Vermuthungen geben, die an Wahrſcheinlichkeit dieſer Vermuthung gleich kommen? —
Die Einbildungskraft durch Schmachten und Sehnen der Liebe bewegt — oder
durch innigſterregte Leidenſchaft geſpannt — wirkt auf entfernte Oerter und Zeiten.
Ein Kranker oder Sterbender z. E. ſehnt ſich nach einem entfernten Freunde — der nichts
von ſeiner Krankheit weiß, nicht an ihn denkt — der Sterbende ſchmachtet ſich in ſeiner Jmagina-
tion gleichſam durch Waͤnde und Mauern hindurch — und erſcheint in ſeiner Geſtalt oder giebt
Merkmale ſeiner Gegenwart, die denen aͤhnlich ſind, die ſeine wirkliche Gegenwart giebt. Jſt da
wirkliche koͤrperliche Erſcheinung? Nein! — Der Kranke, der Sterbende ſchmachtet in ſeinem
Bette, und iſt keinen Augenblick abweſend geweſen! alſo keine wirkliche Erſcheinung deſſen, deſſen
Geſtalt erſcheint. — Wer ſchafft denn dieſe Erſcheinung? wer wirkt da in die Entfernung auf des
andern Sinne, oder Jmagination? — Die Jmagination! Aber Jmagination im Brennpunkte der
Leidenſchaft! Das wie? iſt unerklaͤrlich. Aber die Fakta laͤugnen, wer darfs, der nicht allem hi-
ſtoriſchen Glauben Hohn ſpricht?
Koͤnnte
*) Man heißt den einen Rieſen, der uͤber ſechs Fuß hoch, und einen Zwerg den ausgewachſenen Mann, der
nicht vier Fuß hoch iſt.
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