I. Abschnitt. VII. Fragment. Wirkungen der Einbildungskraft
Siebentes Fragment. Fortsetzung. Wirkungen der Einbildungskraft auf die menschliche Bildung. Muttermähler. Mißgeburten.
Daß es Zeichen gebe an Kindern, herrührend von tiefen Eindrücken der Einbildungskraft, wäh- rend daß ihre Mütter mit ihnen schwanger giengen; daß es Muttermähler gebe, ist wohl eben so unläugbar, als unbegreiflich. Bilder, Züge, Farben von Thieren oder Früchten oder andern Din- gen am Leibe des Kindes; Spuren der Hand auf dem nämlichen Theile, den die Schwangere plötz- lich berührte; Abscheu vor der nämlichen Sache, die der Schwangern Entsetzen verursachte; ja sogar lebenslängliche Mundfäule des Kindes, dessen Mutter durch den plötzlichen Anblick eines verwesen- den Thieres erschreckt ward -- Kurz, Zeichen am Leibe der Kinder, die nicht von erdichteten, son- dern wirklichen Vorfallenheiten herrührten, zwingen uns -- etwas für wahr zu halten, das uns schlechterdings unbegreiflich ist. Die Einbildung der Mutter wirkt also auf ihre Leibesfrucht.
Hier noch ein Paar besondere Beyspiele aus unzähligen.
Eine schwangere Frau spielte in einer Gesellschaft mit Karten -- und ihr mangelte zu einem großen Gewinn ein Pique-Aß, oder wie das Ding heißen mag! Die Karten wurden das letzte- mal ausgetheilt, und sie bekam die gewünschte Karte. Die Freude schnitt sich gleichsam in ihre Jmagination ein -- und das von ihr geborne Kind hatte in dem Sterne des Auges ein solches Aß, und dennoch ein scharfes Gesicht.
Noch erstaunenswürdiger ist folgende zuverlässig wahre Geschichte.
Eine vornehme Frau im Rheinthale hatte während ihrer Schwangerschaft Lust, einer Exe- kution zuzusehen -- eines Mannes, der verurtheilt war, daß ihm vor der Enthauptung die rechte Hand abgehauen werden sollte. -- Die Frau sah den Hieb und die abgehauene Hand, und wandte sich schnell, ohne der folgenden Exekution zuzusehen, und eilte nach Hause. Sie gebahr eine Toch- ter, die itzt noch am Leben ist -- welche nur Eine Hand hatte. Gleich nach der Geburt kam die rechte Hand auch noch nach.
Aber
I. Abſchnitt. VII. Fragment. Wirkungen der Einbildungskraft
Siebentes Fragment. Fortſetzung. Wirkungen der Einbildungskraft auf die menſchliche Bildung. Muttermaͤhler. Mißgeburten.
Daß es Zeichen gebe an Kindern, herruͤhrend von tiefen Eindruͤcken der Einbildungskraft, waͤh- rend daß ihre Muͤtter mit ihnen ſchwanger giengen; daß es Muttermaͤhler gebe, iſt wohl eben ſo unlaͤugbar, als unbegreiflich. Bilder, Zuͤge, Farben von Thieren oder Fruͤchten oder andern Din- gen am Leibe des Kindes; Spuren der Hand auf dem naͤmlichen Theile, den die Schwangere ploͤtz- lich beruͤhrte; Abſcheu vor der naͤmlichen Sache, die der Schwangern Entſetzen verurſachte; ja ſogar lebenslaͤngliche Mundfaͤule des Kindes, deſſen Mutter durch den ploͤtzlichen Anblick eines verweſen- den Thieres erſchreckt ward — Kurz, Zeichen am Leibe der Kinder, die nicht von erdichteten, ſon- dern wirklichen Vorfallenheiten herruͤhrten, zwingen uns — etwas fuͤr wahr zu halten, das uns ſchlechterdings unbegreiflich iſt. Die Einbildung der Mutter wirkt alſo auf ihre Leibesfrucht.
Hier noch ein Paar beſondere Beyſpiele aus unzaͤhligen.
Eine ſchwangere Frau ſpielte in einer Geſellſchaft mit Karten — und ihr mangelte zu einem großen Gewinn ein Pique-Aß, oder wie das Ding heißen mag! Die Karten wurden das letzte- mal ausgetheilt, und ſie bekam die gewuͤnſchte Karte. Die Freude ſchnitt ſich gleichſam in ihre Jmagination ein — und das von ihr geborne Kind hatte in dem Sterne des Auges ein ſolches Aß, und dennoch ein ſcharfes Geſicht.
Noch erſtaunenswuͤrdiger iſt folgende zuverlaͤſſig wahre Geſchichte.
Eine vornehme Frau im Rheinthale hatte waͤhrend ihrer Schwangerſchaft Luſt, einer Exe- kution zuzuſehen — eines Mannes, der verurtheilt war, daß ihm vor der Enthauptung die rechte Hand abgehauen werden ſollte. — Die Frau ſah den Hieb und die abgehauene Hand, und wandte ſich ſchnell, ohne der folgenden Exekution zuzuſehen, und eilte nach Hauſe. Sie gebahr eine Toch- ter, die itzt noch am Leben iſt — welche nur Eine Hand hatte. Gleich nach der Geburt kam die rechte Hand auch noch nach.
Aber
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0092"n="66"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Abſchnitt. <hirendition="#aq">VII.</hi> Fragment. Wirkungen der Einbildungskraft</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Siebentes Fragment.<lb/>
Fortſetzung. Wirkungen der Einbildungskraft auf die menſchliche<lb/>
Bildung.<lb/>
Muttermaͤhler. Mißgeburten.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>aß es Zeichen gebe an Kindern, herruͤhrend von tiefen Eindruͤcken der Einbildungskraft, waͤh-<lb/>
rend daß ihre Muͤtter mit ihnen ſchwanger giengen; daß es <hirendition="#b">Muttermaͤhler</hi> gebe, iſt wohl eben ſo<lb/>
unlaͤugbar, als unbegreiflich. Bilder, Zuͤge, Farben von Thieren oder Fruͤchten oder andern Din-<lb/>
gen am Leibe des Kindes; Spuren der Hand auf dem naͤmlichen Theile, den die Schwangere ploͤtz-<lb/>
lich beruͤhrte; Abſcheu vor der naͤmlichen Sache, die der Schwangern Entſetzen verurſachte; ja ſogar<lb/>
lebenslaͤngliche Mundfaͤule des Kindes, deſſen Mutter durch den ploͤtzlichen Anblick eines verweſen-<lb/>
den Thieres erſchreckt ward — Kurz, Zeichen am Leibe der Kinder, die nicht von erdichteten, ſon-<lb/>
dern wirklichen Vorfallenheiten herruͤhrten, zwingen uns — etwas fuͤr wahr zu halten, das<lb/>
uns ſchlechterdings unbegreiflich iſt. Die Einbildung der Mutter wirkt alſo auf ihre Leibesfrucht.</p><lb/><p>Hier noch ein Paar beſondere Beyſpiele aus unzaͤhligen.</p><lb/><p>Eine ſchwangere Frau ſpielte in einer Geſellſchaft mit Karten — und ihr mangelte zu einem<lb/>
großen Gewinn ein <hirendition="#b">Pique-Aß,</hi> oder wie das Ding heißen mag! Die Karten wurden das letzte-<lb/>
mal ausgetheilt, und ſie bekam die gewuͤnſchte Karte. Die Freude ſchnitt ſich gleichſam in ihre<lb/>
Jmagination ein — und das von ihr geborne Kind hatte in dem Sterne des Auges ein ſolches <hirendition="#b">Aß,</hi><lb/>
und <hirendition="#b">dennoch ein ſcharfes Geſicht.</hi></p><lb/><p>Noch erſtaunenswuͤrdiger iſt folgende zuverlaͤſſig wahre Geſchichte.</p><lb/><p>Eine vornehme Frau im Rheinthale hatte waͤhrend ihrer Schwangerſchaft Luſt, einer Exe-<lb/>
kution zuzuſehen — eines Mannes, der verurtheilt war, daß ihm vor der Enthauptung die rechte<lb/>
Hand abgehauen werden ſollte. — Die Frau ſah den Hieb und die abgehauene Hand, und wandte<lb/>ſich ſchnell, ohne der folgenden Exekution zuzuſehen, und eilte nach Hauſe. Sie gebahr eine Toch-<lb/>
ter, die itzt noch am Leben iſt — welche nur <hirendition="#b">Eine</hi> Hand hatte. Gleich nach der Geburt kam die<lb/>
rechte Hand auch noch nach.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Aber</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[66/0092]
I. Abſchnitt. VII. Fragment. Wirkungen der Einbildungskraft
Siebentes Fragment.
Fortſetzung. Wirkungen der Einbildungskraft auf die menſchliche
Bildung.
Muttermaͤhler. Mißgeburten.
Daß es Zeichen gebe an Kindern, herruͤhrend von tiefen Eindruͤcken der Einbildungskraft, waͤh-
rend daß ihre Muͤtter mit ihnen ſchwanger giengen; daß es Muttermaͤhler gebe, iſt wohl eben ſo
unlaͤugbar, als unbegreiflich. Bilder, Zuͤge, Farben von Thieren oder Fruͤchten oder andern Din-
gen am Leibe des Kindes; Spuren der Hand auf dem naͤmlichen Theile, den die Schwangere ploͤtz-
lich beruͤhrte; Abſcheu vor der naͤmlichen Sache, die der Schwangern Entſetzen verurſachte; ja ſogar
lebenslaͤngliche Mundfaͤule des Kindes, deſſen Mutter durch den ploͤtzlichen Anblick eines verweſen-
den Thieres erſchreckt ward — Kurz, Zeichen am Leibe der Kinder, die nicht von erdichteten, ſon-
dern wirklichen Vorfallenheiten herruͤhrten, zwingen uns — etwas fuͤr wahr zu halten, das
uns ſchlechterdings unbegreiflich iſt. Die Einbildung der Mutter wirkt alſo auf ihre Leibesfrucht.
Hier noch ein Paar beſondere Beyſpiele aus unzaͤhligen.
Eine ſchwangere Frau ſpielte in einer Geſellſchaft mit Karten — und ihr mangelte zu einem
großen Gewinn ein Pique-Aß, oder wie das Ding heißen mag! Die Karten wurden das letzte-
mal ausgetheilt, und ſie bekam die gewuͤnſchte Karte. Die Freude ſchnitt ſich gleichſam in ihre
Jmagination ein — und das von ihr geborne Kind hatte in dem Sterne des Auges ein ſolches Aß,
und dennoch ein ſcharfes Geſicht.
Noch erſtaunenswuͤrdiger iſt folgende zuverlaͤſſig wahre Geſchichte.
Eine vornehme Frau im Rheinthale hatte waͤhrend ihrer Schwangerſchaft Luſt, einer Exe-
kution zuzuſehen — eines Mannes, der verurtheilt war, daß ihm vor der Enthauptung die rechte
Hand abgehauen werden ſollte. — Die Frau ſah den Hieb und die abgehauene Hand, und wandte
ſich ſchnell, ohne der folgenden Exekution zuzuſehen, und eilte nach Hauſe. Sie gebahr eine Toch-
ter, die itzt noch am Leben iſt — welche nur Eine Hand hatte. Gleich nach der Geburt kam die
rechte Hand auch noch nach.
Aber
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/92>, abgerufen am 17.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.