Der Mahler und Zeichner sollte lernen können, sich weniger an Gott und Menschheit zu versündigen durch Verunstaltung der Formen und Züge, die ihm erscheinen, und die er fest halten will.
Leser! lies und prüfe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! -- Genug, wenn du, wo nicht alle- mal, doch sehr oft, gelernt hast, Gottes Handschrift wenigstens auf einigen der besten Menschengesichter le- sen, und oft bisweilen anschauend erkennest -- plus esse in uno saepe quam in turba boni.
Du hast mich nicht gelesen, wenn du dich durch mein Werk berechtigt hältst, sogleich über jedes dir vorkommende Gesicht abzusprechen.
Jtzt am Ende einer mühsamen Laufbahn -- habe ich neben täglich steigender Ueberzeugung von der Wahrheit der Physiognomik wenigstens eben so viel Behutsamkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie- derholen, was ich beym Anfange sagte -- Es begegnen mir noch täglich hundert Gesichter, von denen ich nichts zu sagen wüßte, als höchstens was sie nicht sind, und nicht seyn können; aber nicht, was sie sind -- Möchte dieß Bekenntniß Mißbrauch dieser Fragmente verhüten können!
B. Allerley über dieß Werk.
Die Verschiedenheit des Jnnhalts dieses Werks wird niemanden ärgern, als wen die Verschiedenheit der Naturprodukte ärgert -- Es wird sich nur fragen: "Jst's dem Titel und Zwecke des Werkes gemäß?
Einen Plan einer vollständigern Physiognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Hülfe auch noch einmal zu entwerfen.
Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das beweiset nur wider meine physiognomische Einsicht, nicht wider die Physiognomik.
Viele, ja unzählige eingesandte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch schreibe, was ich schreiben kann und will; nicht, was man mich schreiben lassen will. Jch sage, was ich weiß, und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wissen soll. Auch ohne das wäre, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden wäre, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch- barste davon wird in den physiognomischen Linien, so Gott Leben und Kraft erhält -- benutzt werden.
Jch
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Allerley dieß Werk Betreffendes.
Der Mahler und Zeichner ſollte lernen koͤnnen, ſich weniger an Gott und Menſchheit zu verſuͤndigen durch Verunſtaltung der Formen und Zuͤge, die ihm erſcheinen, und die er feſt halten will.
Leſer! lies und pruͤfe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! — Genug, wenn du, wo nicht alle- mal, doch ſehr oft, gelernt haſt, Gottes Handſchrift wenigſtens auf einigen der beſten Menſchengeſichter le- ſen, und oft bisweilen anſchauend erkenneſt — plus eſſe in uno ſaepe quam in turba boni.
Du haſt mich nicht geleſen, wenn du dich durch mein Werk berechtigt haͤltſt, ſogleich uͤber jedes dir vorkommende Geſicht abzuſprechen.
Jtzt am Ende einer muͤhſamen Laufbahn — habe ich neben taͤglich ſteigender Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomik wenigſtens eben ſo viel Behutſamkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie- derholen, was ich beym Anfange ſagte — Es begegnen mir noch taͤglich hundert Geſichter, von denen ich nichts zu ſagen wuͤßte, als hoͤchſtens was ſie nicht ſind, und nicht ſeyn koͤnnen; aber nicht, was ſie ſind — Moͤchte dieß Bekenntniß Mißbrauch dieſer Fragmente verhuͤten koͤnnen!
B. Allerley uͤber dieß Werk.
Die Verſchiedenheit des Jnnhalts dieſes Werks wird niemanden aͤrgern, als wen die Verſchiedenheit der Naturprodukte aͤrgert — Es wird ſich nur fragen: „Jſt’s dem Titel und Zwecke des Werkes gemaͤß?
Einen Plan einer vollſtaͤndigern Phyſiognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Huͤlfe auch noch einmal zu entwerfen.
Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das beweiſet nur wider meine phyſiognomiſche Einſicht, nicht wider die Phyſiognomik.
Viele, ja unzaͤhlige eingeſandte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch ſchreibe, was ich ſchreiben kann und will; nicht, was man mich ſchreiben laſſen will. Jch ſage, was ich weiß, und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wiſſen ſoll. Auch ohne das waͤre, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden waͤre, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch- barſte davon wird in den phyſiognomiſchen Linien, ſo Gott Leben und Kraft erhaͤlt — benutzt werden.
Jch
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Allerley dieß Werk Betreffendes.
Der Mahler und Zeichner ſollte lernen koͤnnen, ſich weniger an Gott und Menſchheit zu verſuͤndigen
durch Verunſtaltung der Formen und Zuͤge, die ihm erſcheinen, und die er feſt halten will.
Leſer! lies und pruͤfe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng
und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! — Genug, wenn du, wo nicht alle-
mal, doch ſehr oft, gelernt haſt, Gottes Handſchrift wenigſtens auf einigen der beſten Menſchengeſichter le-
ſen, und oft bisweilen anſchauend erkenneſt — plus eſſe in uno ſaepe quam in turba boni.
Du haſt mich nicht geleſen, wenn du dich durch mein Werk berechtigt haͤltſt, ſogleich uͤber jedes dir
vorkommende Geſicht abzuſprechen.
Jtzt am Ende einer muͤhſamen Laufbahn — habe ich neben taͤglich ſteigender Ueberzeugung von der
Wahrheit der Phyſiognomik wenigſtens eben ſo viel Behutſamkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie-
derholen, was ich beym Anfange ſagte — Es begegnen mir noch taͤglich hundert Geſichter, von denen ich nichts
zu ſagen wuͤßte, als hoͤchſtens was ſie nicht ſind, und nicht ſeyn koͤnnen; aber nicht, was ſie ſind — Moͤchte
dieß Bekenntniß Mißbrauch dieſer Fragmente verhuͤten koͤnnen!
B. Allerley uͤber dieß Werk.
Die Verſchiedenheit des Jnnhalts dieſes Werks wird niemanden aͤrgern, als wen die Verſchiedenheit
der Naturprodukte aͤrgert — Es wird ſich nur fragen: „Jſt’s dem Titel und Zwecke des Werkes gemaͤß?
Einen Plan einer vollſtaͤndigern Phyſiognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Huͤlfe auch noch
einmal zu entwerfen.
Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das beweiſet nur wider meine phyſiognomiſche Einſicht,
nicht wider die Phyſiognomik.
Viele, ja unzaͤhlige eingeſandte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch
ſchreibe, was ich ſchreiben kann und will; nicht, was man mich ſchreiben laſſen will. Jch ſage, was ich weiß,
und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wiſſen ſoll. Auch ohne
das waͤre, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden waͤre, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch-
barſte davon wird in den phyſiognomiſchen Linien, ſo Gott Leben und Kraft erhaͤlt — benutzt werden.
Jch
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/629>, abgerufen am 23.02.2025.
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