Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.X. Abschnitt. IV. Fragment. lehrt helfen -- wo Hülfe nöthig ist; Hülfe angenommen wird; Hülfe hilft. O daß ichs allen leicht beweglichen,gütigen Herzen noch zu rechter Zeit und mit rechter Kraft zurufen könnte: Werfet nicht weg -- säet nicht auf Wasser oder Felsen; -- sprecht nur mit dem Hörer; -- öffnet das Herz -- nur Herzen; -- philoso- phirt -- nur mit dem Philosophen; -- evangelisirt nur mit evangelischen Charaktern! Seine Kraft im Zaume halten, ist -- größere Kraft, als ungezähmt sie wirken lassen. Behalten -- oft mehr Güte als Ge- ben. Was nicht genossen wird, wird dir ins Gesicht geworfen, oder zertreten; -- und so hat's niemand, we- der du, noch der andere. 6. Thue Gutes dem Guten -- widerstehe dem unwiderstehlichen Gesichte nicht. Gieb dem Gesichte, das 7. Menschenfreund -- wenn die Physiognomik dir würde, was sie mir ist! mir immer mehr wird, je mehr Wenn Gott dir einen edeln Armen sendet, aus dessen Gesicht Demuth und Geduld, Glauben und Lie- Und wenn ein verlassener Jüngling oder Knabe deinem Blicke begegnet -- ach! diese Stirn, sie ist Jn
X. Abſchnitt. IV. Fragment. lehrt helfen — wo Huͤlfe noͤthig iſt; Huͤlfe angenommen wird; Huͤlfe hilft. O daß ichs allen leicht beweglichen,guͤtigen Herzen noch zu rechter Zeit und mit rechter Kraft zurufen koͤnnte: Werfet nicht weg — ſaͤet nicht auf Waſſer oder Felſen; — ſprecht nur mit dem Hoͤrer; — oͤffnet das Herz — nur Herzen; — philoſo- phirt — nur mit dem Philoſophen; — evangeliſirt nur mit evangeliſchen Charaktern! Seine Kraft im Zaume halten, iſt — groͤßere Kraft, als ungezaͤhmt ſie wirken laſſen. Behalten — oft mehr Guͤte als Ge- ben. Was nicht genoſſen wird, wird dir ins Geſicht geworfen, oder zertreten; — und ſo hat’s niemand, we- der du, noch der andere. 6. Thue Gutes dem Guten — widerſtehe dem unwiderſtehlichen Geſichte nicht. Gieb dem Geſichte, das 7. Menſchenfreund — wenn die Phyſiognomik dir wuͤrde, was ſie mir iſt! mir immer mehr wird, je mehr Wenn Gott dir einen edeln Armen ſendet, aus deſſen Geſicht Demuth und Geduld, Glauben und Lie- Und wenn ein verlaſſener Juͤngling oder Knabe deinem Blicke begegnet — ach! dieſe Stirn, ſie iſt Jn
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X. Abſchnitt. IV. Fragment.
lehrt helfen — wo Huͤlfe noͤthig iſt; Huͤlfe angenommen wird; Huͤlfe hilft. O daß ichs allen leicht beweglichen,
guͤtigen Herzen noch zu rechter Zeit und mit rechter Kraft zurufen koͤnnte: Werfet nicht weg — ſaͤet nicht
auf Waſſer oder Felſen; — ſprecht nur mit dem Hoͤrer; — oͤffnet das Herz — nur Herzen; — philoſo-
phirt — nur mit dem Philoſophen; — evangeliſirt nur mit evangeliſchen Charaktern! Seine Kraft im
Zaume halten, iſt — groͤßere Kraft, als ungezaͤhmt ſie wirken laſſen. Behalten — oft mehr Guͤte als Ge-
ben. Was nicht genoſſen wird, wird dir ins Geſicht geworfen, oder zertreten; — und ſo hat’s niemand, we-
der du, noch der andere.
6.
Thue Gutes dem Guten — widerſtehe dem unwiderſtehlichen Geſichte nicht. Gieb dem Geſichte, das
dich bittet — Die Fuͤrſehung oder Gott iſt’s ſelbſt, der dir das ſich empfehlende Geſicht empſiehlt — Jhm ab-
ſchlagen, heißt Gott abſchlagen. Unmittelbarer kann Gott nichts von dir verlangen, als durch ein heiteres, off-
nes, unſchuldredendes Geſicht. Unmittelbarer kannſt du Gott nicht verherrlichen, als durch Wohlwollen und
Wohlthun — gegen ein Geſicht voll goͤttlichen Geiſtes; unmittelbarer und freventlicher kannſt du Gottes Ma-
jeſtaͤt nicht beleidigen und verletzen, als durch Verachtung, Hoͤhnung und Wegweiſung eines ſolchen Geſichtes.
Gott kann nicht eigentlicher auf Menſchen wirken, als durch Menſchen. Wer Gottes Menſchen verwirft, ver-
wirft Gott; wer Gottes Menſchen erfreut, erfreut Gott. Gottesſtral im Angeſichte des Menſchen zu erkennen,
iſt Vorzug und Wuͤrde der Menſchheit; das Maaß des goͤttlichen Geiſtes im Angeſichte des Menſchen zu fuͤh-
len und zu erkennen, iſt aller Weisheit Gipfel; — und aller Guͤte Gipfel, dieſen Stral der Goͤttlichkeit aus
den Wolken des verdorbenſten Geſichtes heraus zu lauren — dieſen Funken des Himmels heraus zu gra-
ben aus dem Schutte und Verfalle jeder zerruͤtteten Phyſiognomie.
7.
Menſchenfreund — wenn die Phyſiognomik dir wuͤrde, was ſie mir iſt! mir immer mehr wird, je mehr
ich ihre Wahrheit erfahre — wenn ſie dein Auge aufmerkſam machte auf die wenigen Edeln — und auf das
Edle in jedem Unedlen! das Goͤttliche in allem Menſchlichen — das Unſterbliche in allem Sterblichen! — —
Weiſer Leſer! ſchwatze wenig davon, aber ſchaue viel! diſputire nicht, ſondern uͤbe deinen Sinn! du wirſt kei-
nen uͤberzeugen, den nicht ſein eigner Sinn zuerſt uͤberzeugt hat.
Wenn Gott dir einen edeln Armen ſendet, aus deſſen Geſicht Demuth und Geduld, Glauben und Lie-
be leuchtet — wie anders als der Gefuͤhlloſe wirſt du dich freuen der Worte: Was du einem meiner gering-
ſten Bruͤder thuſt, thuſt du mir.
Und wenn ein verlaſſener Juͤngling oder Knabe deinem Blicke begegnet — ach! dieſe Stirn, ſie iſt
bezeichnet von Gott, Wahrheit zu ſuchen und zu finden — Jn ſeinem Auge ruhet unentwickelte Weisheit —
Jn
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