Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.X. Abschnitt. IV. Fragment. n) Noch mehr erhebt uns das unschuldige -- wenn's seeligt, voll Seele, das ist, voll natürlicher o) Wenn Ordnung, Geist der Ordnung sich in einem reinen Gesichte zu guter Kraft gesellt -- möcht' p) Geistigschön -- wenn sich vom Gesichte, das gefällt, nichts ungedachtes, unüberlegtes, rohes, q) Edel -- wenn wir nicht die mindeste Jndiskretion befürchten dürfen; wenn wir das Gesicht, ohne r) Ein großes Gesicht hat wenige kleine Nebenzüge; große Hauptpartheyen, ohne Runzeln; muß s) Ein erhabenes Gesicht muß unerreichbar dem Pinsel und unbeschreiblich der Feder seyn. Das, B. Vermischte Gedanken. 1. Alles ist gut, und alles Gute kann mißbraucht werden, und wird mißbraucht. Der physiognomische 2. Jeder Mensch ist Genie in irgend einer großen oder kleinen Welt. Er hat einen gewissen Kreis, in 3. Näher
X. Abſchnitt. IV. Fragment. n) Noch mehr erhebt uns das unſchuldige — wenn’s ſeeligt, voll Seele, das iſt, voll natuͤrlicher o) Wenn Ordnung, Geiſt der Ordnung ſich in einem reinen Geſichte zu guter Kraft geſellt — moͤcht’ p) Geiſtigſchoͤn — wenn ſich vom Geſichte, das gefaͤllt, nichts ungedachtes, unuͤberlegtes, rohes, q) Edel — wenn wir nicht die mindeſte Jndiskretion befuͤrchten duͤrfen; wenn wir das Geſicht, ohne r) Ein großes Geſicht hat wenige kleine Nebenzuͤge; große Hauptpartheyen, ohne Runzeln; muß s) Ein erhabenes Geſicht muß unerreichbar dem Pinſel und unbeſchreiblich der Feder ſeyn. Das, B. Vermiſchte Gedanken. 1. Alles iſt gut, und alles Gute kann mißbraucht werden, und wird mißbraucht. Der phyſiognomiſche 2. Jeder Menſch iſt Genie in irgend einer großen oder kleinen Welt. Er hat einen gewiſſen Kreis, in 3. Naͤher
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0622" n="478"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Abſchnitt. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Fragment.</hi> </fw><lb/> <p><hi rendition="#aq">n)</hi> Noch mehr erhebt uns das unſchuldige — wenn’s <hi rendition="#fr">ſeeligt,</hi> voll <hi rendition="#fr">Seele,</hi> das iſt, voll natuͤrlicher<lb/> Theilnehmung iſt, und voll von Kraft, an welcher ſich leicht Theil nehmen laͤßt.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">o)</hi> Wenn Ordnung, Geiſt der Ordnung ſich in einem reinen Geſichte zu guter Kraft geſellt — moͤcht’<lb/> ichs ein <hi rendition="#fr">attiſches</hi> Geſicht heißen.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">p)</hi><hi rendition="#fr">Geiſtigſchoͤn</hi> — wenn ſich vom Geſichte, das gefaͤllt, nichts ungedachtes, unuͤberlegtes, rohes,<lb/> craſſes erwarten laͤßt; wenn ſein Anblick ſogleich unſre <hi rendition="#fr">Geiſteskraͤfte</hi> in ſanfte Bewegung ſetzt.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">q)</hi><hi rendition="#fr">Edel</hi> — wenn wir nicht die mindeſte Jndiskretion befuͤrchten duͤrfen; wenn wir das Geſicht, ohne<lb/><hi rendition="#fr">Moͤglichkeit des Neides,</hi> uͤber uns erhaben fuͤhlen — weil es ſeine Erhabenheit weniger fuͤhlt, als unſer Wohl-<lb/> behagen in ſeiner Gegenwart.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">r)</hi> Ein <hi rendition="#fr">großes</hi> Geſicht hat wenige kleine Nebenzuͤge; große Hauptpartheyen, ohne Runzeln; muß<lb/> uns erheben; im Schlafe und Abguß und in jeder <hi rendition="#fr">Karrikatur</hi> (wie z. E. Philipp de <hi rendition="#fr">Commines</hi>) noch frappiren.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">s)</hi> Ein <hi rendition="#fr">erhabenes</hi> Geſicht muß unerreichbar dem Pinſel und unbeſchreiblich der Feder ſeyn. Das,<lb/> wodurch es von allen Geſichtern um ſich her ſich auszeichnet, muß nur gefuͤhlt werden. Es muß uns nicht nur<lb/> ruͤhren. Es muß uns erheben. Wir muͤſſen uns in ſeiner Gegenwart groͤßer und kleiner fuͤhlen, als in aller<lb/> andern Menſchen Gegenwart. Wer es fuͤhlt, und verachten oder beleidigen kann, kann, wie oben geſagt, den<lb/> heiligen Geiſt laͤſtern.</p> </div><lb/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">B.</hi> <hi rendition="#g">Vermiſchte Gedanken.</hi> </hi> </head><lb/> <div n="5"> <head>1.</head><lb/> <p>Alles iſt gut, und alles Gute kann mißbraucht werden, und wird mißbraucht. Der phyſiognomiſche<lb/> Sinn iſt an ſich gerade ſo gut, ſo goͤttlich, ſo Siegel hoͤherer Wuͤrde der Menſchennatur, wie der moraliſche<lb/> Sinn (vielleicht im Grunde eben derſelbe.) Unterdruͤckung, Toͤdtung eines ſo ehrenvollen Sinnes, wo er ſich regt,<lb/> iſt alſo Suͤnde wider ſich ſelbſt, und im Grunde eben das, was Widerſtrebung gegen den guten Geiſt. Daß<lb/> jeder, ſelbſt gute, Trieb, jede auch gute Wirkſamkeit ihre Schranken haben muß, um andern guten Trieben und<lb/> Wirkſamkeiten nicht im Wege zu ſtehen — verſteht ſich.</p> </div><lb/> <div n="5"> <head>2.</head><lb/> <p>Jeder Menſch iſt Genie in irgend einer großen oder kleinen Welt. Er hat einen gewiſſen Kreis, in<lb/> welchem er auf eine unnachahmliche Weiſe wirken kann. Je kleiner ſein Reich, deſto konzentrirter ſeine Kraft;<lb/> deſto unnachahmlicher ſeine Regierungsart. So wie die Biene das groͤßte mathematiſche Genie iſt, aber nur<lb/> fuͤr ihre Zelle. — Wenn man eines Menſchen Genie, ſo unbetraͤchtlich der Kreis ſeiner Wirkſamkeit ſeyn mag,<lb/> ausgefunden haͤtte, wenn man ihn gerade in dem Momente, wo ſeine beſchraͤnkte Genialitaͤt in der hoͤchſten Wirk-<lb/> ſamkeit iſt, betreten koͤnnte; ſo waͤre leicht wieder die allgemeine Chifer dazu ausgefunden.</p> </div><lb/> <fw place="bottom" type="catch">3. Naͤher</fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [478/0622]
X. Abſchnitt. IV. Fragment.
n) Noch mehr erhebt uns das unſchuldige — wenn’s ſeeligt, voll Seele, das iſt, voll natuͤrlicher
Theilnehmung iſt, und voll von Kraft, an welcher ſich leicht Theil nehmen laͤßt.
o) Wenn Ordnung, Geiſt der Ordnung ſich in einem reinen Geſichte zu guter Kraft geſellt — moͤcht’
ichs ein attiſches Geſicht heißen.
p) Geiſtigſchoͤn — wenn ſich vom Geſichte, das gefaͤllt, nichts ungedachtes, unuͤberlegtes, rohes,
craſſes erwarten laͤßt; wenn ſein Anblick ſogleich unſre Geiſteskraͤfte in ſanfte Bewegung ſetzt.
q) Edel — wenn wir nicht die mindeſte Jndiskretion befuͤrchten duͤrfen; wenn wir das Geſicht, ohne
Moͤglichkeit des Neides, uͤber uns erhaben fuͤhlen — weil es ſeine Erhabenheit weniger fuͤhlt, als unſer Wohl-
behagen in ſeiner Gegenwart.
r) Ein großes Geſicht hat wenige kleine Nebenzuͤge; große Hauptpartheyen, ohne Runzeln; muß
uns erheben; im Schlafe und Abguß und in jeder Karrikatur (wie z. E. Philipp de Commines) noch frappiren.
s) Ein erhabenes Geſicht muß unerreichbar dem Pinſel und unbeſchreiblich der Feder ſeyn. Das,
wodurch es von allen Geſichtern um ſich her ſich auszeichnet, muß nur gefuͤhlt werden. Es muß uns nicht nur
ruͤhren. Es muß uns erheben. Wir muͤſſen uns in ſeiner Gegenwart groͤßer und kleiner fuͤhlen, als in aller
andern Menſchen Gegenwart. Wer es fuͤhlt, und verachten oder beleidigen kann, kann, wie oben geſagt, den
heiligen Geiſt laͤſtern.
B. Vermiſchte Gedanken.
1.
Alles iſt gut, und alles Gute kann mißbraucht werden, und wird mißbraucht. Der phyſiognomiſche
Sinn iſt an ſich gerade ſo gut, ſo goͤttlich, ſo Siegel hoͤherer Wuͤrde der Menſchennatur, wie der moraliſche
Sinn (vielleicht im Grunde eben derſelbe.) Unterdruͤckung, Toͤdtung eines ſo ehrenvollen Sinnes, wo er ſich regt,
iſt alſo Suͤnde wider ſich ſelbſt, und im Grunde eben das, was Widerſtrebung gegen den guten Geiſt. Daß
jeder, ſelbſt gute, Trieb, jede auch gute Wirkſamkeit ihre Schranken haben muß, um andern guten Trieben und
Wirkſamkeiten nicht im Wege zu ſtehen — verſteht ſich.
2.
Jeder Menſch iſt Genie in irgend einer großen oder kleinen Welt. Er hat einen gewiſſen Kreis, in
welchem er auf eine unnachahmliche Weiſe wirken kann. Je kleiner ſein Reich, deſto konzentrirter ſeine Kraft;
deſto unnachahmlicher ſeine Regierungsart. So wie die Biene das groͤßte mathematiſche Genie iſt, aber nur
fuͤr ihre Zelle. — Wenn man eines Menſchen Genie, ſo unbetraͤchtlich der Kreis ſeiner Wirkſamkeit ſeyn mag,
ausgefunden haͤtte, wenn man ihn gerade in dem Momente, wo ſeine beſchraͤnkte Genialitaͤt in der hoͤchſten Wirk-
ſamkeit iſt, betreten koͤnnte; ſo waͤre leicht wieder die allgemeine Chifer dazu ausgefunden.
3. Naͤher
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |