Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Zweytes Fragment. Physiognomik und Pathognomik. Physiognomik, im eingeschränkten Sinne des Wortes, ist Kraftdeutung, oder Wissenschaft Pathognomik, Leidenschaftsdeutung, oder Wissenschaft der Zeichen der Leiden- Der stehende Charakter liegt in der Form der festen, und in der Ruhe der bewegli- Physiognomik zeigt die Summe der Capitalkraft -- Pathognomik das Jnter- Die erstere ist die Wurzel und der Stamm der andern; der Boden, worauf die andere Physiognomik ist der Spiegel der Naturforscher und Weisen. Pathognomik der Spie- Pathognomik hat mit der Verstellungskunst zu kämpfen; nicht so die Physiognomik. Physiognomik warnt uns, einen Menschen, der 50. per Cent giebt, nicht für reich, und ei- Für den Freund der Wahrheit sind beyde Wissenschaften unzertrennlich. Er studiert beyde, Drittes
Zweytes Fragment. Phyſiognomik und Pathognomik. Phyſiognomik, im eingeſchraͤnkten Sinne des Wortes, iſt Kraftdeutung, oder Wiſſenſchaft Pathognomik, Leidenſchaftsdeutung, oder Wiſſenſchaft der Zeichen der Leiden- Der ſtehende Charakter liegt in der Form der feſten, und in der Ruhe der bewegli- Phyſiognomik zeigt die Summe der Capitalkraft — Pathognomik das Jnter- Die erſtere iſt die Wurzel und der Stamm der andern; der Boden, worauf die andere Phyſiognomik iſt der Spiegel der Naturforſcher und Weiſen. Pathognomik der Spie- Pathognomik hat mit der Verſtellungskunſt zu kaͤmpfen; nicht ſo die Phyſiognomik. Phyſiognomik warnt uns, einen Menſchen, der 50. per Cent giebt, nicht fuͤr reich, und ei- Fuͤr den Freund der Wahrheit ſind beyde Wiſſenſchaften unzertrennlich. Er ſtudiert beyde, Drittes
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0061" n="39"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Zweytes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Phyſiognomik und Pathognomik.</hi></hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">P</hi><hi rendition="#fr">hyſiognomik,</hi> im eingeſchraͤnkten Sinne des Wortes, iſt <hi rendition="#fr">Kraftdeutung,</hi> oder <hi rendition="#fr">Wiſſenſchaft<lb/> der Zeichen der Kraͤfte.</hi></p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Pathognomik, Leidenſchaftsdeutung,</hi> oder <hi rendition="#fr">Wiſſenſchaft der Zeichen der Leiden-<lb/> ſchaften.</hi> Jene zeigt den <hi rendition="#fr">ſtehenden</hi> — dieſe den <hi rendition="#fr">bewegten</hi> Charakter.</p><lb/> <p>Der <hi rendition="#fr">ſtehende Charakter</hi> liegt in der <hi rendition="#fr">Form</hi> der <hi rendition="#fr">feſten,</hi> und in der <hi rendition="#fr">Ruhe</hi> der <hi rendition="#fr">bewegli-<lb/> chen</hi> Theile. Der <hi rendition="#fr">leidenſchaftliche</hi> — in der <hi rendition="#fr">Bewegung</hi> der <hi rendition="#fr">beweglichen.</hi> Die Bewegung<lb/> iſt, wie die bewegende Kraft. Die Leidenſchaft hat ein beſtimmtes Verhaͤltniß zu der Leidenſchaft-<lb/> lichkeit, oder <hi rendition="#fr">Elaſtizitaͤt</hi> des Menſchen.</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Phyſiognomik</hi> zeigt die <hi rendition="#fr">Summe der Capitalkraft — Pathognomik</hi> das <hi rendition="#fr">Jnter-<lb/> eſſe,</hi> das jene abwirft. Jene, was der Menſch <hi rendition="#fr">uͤberhaupt iſt;</hi> dieſe, was er in dem <hi rendition="#fr">gegenwaͤrti-<lb/> gen Moment</hi> iſt. Jene, was er werden und nicht werden, <hi rendition="#fr">ſeyn und nicht ſeyn kann;</hi> dieſe,<lb/> was er ſeyn <hi rendition="#fr">will</hi> und <hi rendition="#fr">nicht</hi> ſeyn will.</p><lb/> <p>Die erſtere iſt die <hi rendition="#fr">Wurzel</hi> und der <hi rendition="#fr">Stamm</hi> der andern; der <hi rendition="#fr">Boden,</hi> worauf die andere<lb/> gepflanzt iſt. — Wer die letztere ohne die erſtere glaubt, glaubt Fruͤchte ohne Stamm, Getraide<lb/> ohne Boden ...</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Phyſiognomik</hi> iſt der Spiegel der Naturforſcher und Weiſen. <hi rendition="#fr">Pathognomik</hi> der Spie-<lb/> gel der Hof- und Weltleute. Alle Welt lieſet <hi rendition="#fr">pathognomiſch</hi> — ſehr wenige leſen <hi rendition="#fr">phyſiognomiſch.</hi></p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Pathognomik</hi> hat mit der Verſtellungskunſt zu kaͤmpfen; nicht ſo die <hi rendition="#fr">Phyſiognomik.</hi></p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Phyſiognomik</hi> warnt uns, einen Menſchen, der 50. per Cent giebt, nicht fuͤr reich, und ei-<lb/> nen, der nicht 1. per Cent geben kann, nicht fuͤr arm zu halten. Das heißt — pathognomiſch kann<lb/> einer reich ſcheinen, der arm iſt; phyſiognomiſch iſt uns nur der reich, der es iſt, ob er gleich gerade<lb/> itzt arm ſcheint.</p><lb/> <p>Fuͤr den Freund der Wahrheit ſind beyde Wiſſenſchaften unzertrennlich. Er ſtudiert beyde,<lb/> und gelangt dazu — die Phyſiognomie der feſten und unbewegten Theile in den weichen und be-<lb/> wegten — und die Weichheit und Beweglichkeit der weichen und beweglichen in den feſten zu ſehen.<lb/> Er beſtimmt jedem Stirnbogen ſeinen leidenſchaftlichen Spielraum — und jeder Leidenſchaft den<lb/> Stirnbogen ihrer Reſidenz, oder die Potenz, aus der ſie ſich ergießt; ihre Wurzel, ihren Capitalfond.<lb/> Durch alle Baͤnde, und beynah auf allen Seiten dieſes Werkes hab’ ich mich bemuͤhet, meinen Le-<lb/> ſern mehr Phyſiognomik als Pathognomik zu geben, weil die letztere viel bearbeiteter iſt, als die<lb/> erſtere.</p> </div><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Drittes</hi> </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0061]
Zweytes Fragment.
Phyſiognomik und Pathognomik.
Phyſiognomik, im eingeſchraͤnkten Sinne des Wortes, iſt Kraftdeutung, oder Wiſſenſchaft
der Zeichen der Kraͤfte.
Pathognomik, Leidenſchaftsdeutung, oder Wiſſenſchaft der Zeichen der Leiden-
ſchaften. Jene zeigt den ſtehenden — dieſe den bewegten Charakter.
Der ſtehende Charakter liegt in der Form der feſten, und in der Ruhe der bewegli-
chen Theile. Der leidenſchaftliche — in der Bewegung der beweglichen. Die Bewegung
iſt, wie die bewegende Kraft. Die Leidenſchaft hat ein beſtimmtes Verhaͤltniß zu der Leidenſchaft-
lichkeit, oder Elaſtizitaͤt des Menſchen.
Phyſiognomik zeigt die Summe der Capitalkraft — Pathognomik das Jnter-
eſſe, das jene abwirft. Jene, was der Menſch uͤberhaupt iſt; dieſe, was er in dem gegenwaͤrti-
gen Moment iſt. Jene, was er werden und nicht werden, ſeyn und nicht ſeyn kann; dieſe,
was er ſeyn will und nicht ſeyn will.
Die erſtere iſt die Wurzel und der Stamm der andern; der Boden, worauf die andere
gepflanzt iſt. — Wer die letztere ohne die erſtere glaubt, glaubt Fruͤchte ohne Stamm, Getraide
ohne Boden ...
Phyſiognomik iſt der Spiegel der Naturforſcher und Weiſen. Pathognomik der Spie-
gel der Hof- und Weltleute. Alle Welt lieſet pathognomiſch — ſehr wenige leſen phyſiognomiſch.
Pathognomik hat mit der Verſtellungskunſt zu kaͤmpfen; nicht ſo die Phyſiognomik.
Phyſiognomik warnt uns, einen Menſchen, der 50. per Cent giebt, nicht fuͤr reich, und ei-
nen, der nicht 1. per Cent geben kann, nicht fuͤr arm zu halten. Das heißt — pathognomiſch kann
einer reich ſcheinen, der arm iſt; phyſiognomiſch iſt uns nur der reich, der es iſt, ob er gleich gerade
itzt arm ſcheint.
Fuͤr den Freund der Wahrheit ſind beyde Wiſſenſchaften unzertrennlich. Er ſtudiert beyde,
und gelangt dazu — die Phyſiognomie der feſten und unbewegten Theile in den weichen und be-
wegten — und die Weichheit und Beweglichkeit der weichen und beweglichen in den feſten zu ſehen.
Er beſtimmt jedem Stirnbogen ſeinen leidenſchaftlichen Spielraum — und jeder Leidenſchaft den
Stirnbogen ihrer Reſidenz, oder die Potenz, aus der ſie ſich ergießt; ihre Wurzel, ihren Capitalfond.
Durch alle Baͤnde, und beynah auf allen Seiten dieſes Werkes hab’ ich mich bemuͤhet, meinen Le-
ſern mehr Phyſiognomik als Pathognomik zu geben, weil die letztere viel bearbeiteter iſt, als die
erſtere.
Drittes
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |