Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.IX. Abschnitt. III. Fragment. M. Ein schattirtes Vollgesicht. Des IV Ban-des LXIII. Tafel. Huld und Treue. Mir unter allen bisherigen der liebste, vertrauteste, anmuthigste -- menschlichste.*) So ganz unidealisch -- so ganz aus der Menschenwelt. Nicht der schönste aller Men- Jch entwickle nicht, zergliedere nicht -- kritisire nicht. Jch ruhe auf der süßen Ruhe dieses Hier noch ein feiner, edler, großmüthiger, verständiger -- mehr Engländer -- als Jude; [Abbildung]
N. Chri- *) [Spaltenumbruch]
Das Originalgemählde ist von einem unbekanten
Meister; und ob ich es gleich selber besitze -- (ich zäh- le es unter die besondersten Erfreuungen der Fürsehung, daß es mir werden mußte) so darf ich doch sagen -- [Spaltenumbruch] noch keinen Kopf von dieser Natürlichkeit habe ich ge- sehen; und auf keinem Gemählde kann ich seliger ru- hen. -- Die Copie ist ziemlich gut, aber viel zu hart. IX. Abſchnitt. III. Fragment. M. Ein ſchattirtes Vollgeſicht. Des IV Ban-des LXIII. Tafel. Huld und Treue. Mir unter allen bisherigen der liebſte, vertrauteſte, anmuthigſte — menſchlichſte.*) So ganz unidealiſch — ſo ganz aus der Menſchenwelt. Nicht der ſchoͤnſte aller Men- Jch entwickle nicht, zergliedere nicht — kritiſire nicht. Jch ruhe auf der ſuͤßen Ruhe dieſes Hier noch ein feiner, edler, großmuͤthiger, verſtaͤndiger — mehr Englaͤnder — als Jude; [Abbildung]
N. Chri- *) [Spaltenumbruch]
Das Originalgemaͤhlde iſt von einem unbekanten
Meiſter; und ob ich es gleich ſelber beſitze — (ich zaͤh- le es unter die beſonderſten Erfreuungen der Fuͤrſehung, daß es mir werden mußte) ſo darf ich doch ſagen — [Spaltenumbruch] noch keinen Kopf von dieſer Natuͤrlichkeit habe ich ge- ſehen; und auf keinem Gemaͤhlde kann ich ſeliger ru- hen. — Die Copie iſt ziemlich gut, aber viel zu hart. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0592" n="452"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Abſchnitt. <hi rendition="#aq">III.</hi> Fragment.</hi> </fw><lb/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">M.</hi> Ein ſchattirtes Vollgeſicht.</hi> </head><lb/> <note place="left">Des <hi rendition="#aq">IV</hi> Ban-<lb/> des <hi rendition="#aq">LXIII.</hi><lb/> Tafel. Huld<lb/> und Treue.</note> <p><hi rendition="#in">M</hi>ir unter allen bisherigen der liebſte, vertrauteſte, anmuthigſte — menſchlichſte.<note place="foot" n="*)"><cb/> Das Originalgemaͤhlde iſt von einem unbekanten<lb/> Meiſter; und ob ich es gleich ſelber beſitze — (ich zaͤh-<lb/> le es unter die beſonderſten Erfreuungen der Fuͤrſehung,<lb/> daß es mir werden mußte) ſo darf ich doch ſagen —<lb/><cb/> noch keinen Kopf von dieſer Natuͤrlichkeit habe ich ge-<lb/> ſehen; und auf keinem Gemaͤhlde kann ich ſeliger ru-<lb/> hen. — Die Copie iſt ziemlich gut, aber viel zu hart.</note></p><lb/> <p>So ganz unidealiſch — ſo ganz aus der Menſchenwelt. Nicht der ſchoͤnſte aller Men-<lb/> ſchenſoͤhne — aber dennoch iſt Wahrheit und Gnade in ſeine Lefzen ausgegoſſen. Wenn<lb/> auch nur ſo hell und guͤtig dein Blick war, einzig reiner Menſchenfreund, wie kannſt du<lb/> geben und vergeben!</p><lb/> <p>Jch entwickle nicht, zergliedere nicht — kritiſire nicht. Jch ruhe auf der ſuͤßen Ruhe dieſes<lb/> Geſichtes mit; genieße den ſtillen friedlichen Genuß, der es beſeligt, und aus ihm beſeligt. Es blickt<lb/> mir unaufhoͤrlich die Frage in die Seele hinein — <hi rendition="#fr">Simon Jona, liebeſt du mich? Fuͤrchte dich<lb/> nicht, glaube nur!</hi> Dennoch Markzernagend iſt die Stille dieſes Blickes, die Kraft dieſer innig<lb/> durchdringenden Ruhe — fuͤr den Phariſaͤer! O wenn du mich ſegnen willſt, Vater, und auf dem<lb/> weiten Erdball unter tauſend Millionen Suͤndern iſt Einer, den dein Geiſt zu dieſer Heiterkeit gerei-<lb/> nigt hat, wuͤrdige mich, ſein Angeſicht zu ſehen — daß ſein Anblick auch mich reinige. —</p><lb/> <p>Hier noch ein feiner, edler, großmuͤthiger, verſtaͤndiger — mehr <hi rendition="#fr">Englaͤnder</hi> — als <hi rendition="#fr">Jude;</hi><lb/> mehr wohlerzogener Edelmann, als Chriſtus — Doch! wo ihr dieſe Stirn, Naſe und Augen ſeht —<lb/> ſteht ſtill! blickt dem Manne in die Seele — und bittet — erlaube mir dir nachzufolgen, wo du<lb/> hingehſt.</p><lb/> <figure/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">N.</hi> Chri-</hi> </fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [452/0592]
IX. Abſchnitt. III. Fragment.
M. Ein ſchattirtes Vollgeſicht.
Mir unter allen bisherigen der liebſte, vertrauteſte, anmuthigſte — menſchlichſte. *)
So ganz unidealiſch — ſo ganz aus der Menſchenwelt. Nicht der ſchoͤnſte aller Men-
ſchenſoͤhne — aber dennoch iſt Wahrheit und Gnade in ſeine Lefzen ausgegoſſen. Wenn
auch nur ſo hell und guͤtig dein Blick war, einzig reiner Menſchenfreund, wie kannſt du
geben und vergeben!
Jch entwickle nicht, zergliedere nicht — kritiſire nicht. Jch ruhe auf der ſuͤßen Ruhe dieſes
Geſichtes mit; genieße den ſtillen friedlichen Genuß, der es beſeligt, und aus ihm beſeligt. Es blickt
mir unaufhoͤrlich die Frage in die Seele hinein — Simon Jona, liebeſt du mich? Fuͤrchte dich
nicht, glaube nur! Dennoch Markzernagend iſt die Stille dieſes Blickes, die Kraft dieſer innig
durchdringenden Ruhe — fuͤr den Phariſaͤer! O wenn du mich ſegnen willſt, Vater, und auf dem
weiten Erdball unter tauſend Millionen Suͤndern iſt Einer, den dein Geiſt zu dieſer Heiterkeit gerei-
nigt hat, wuͤrdige mich, ſein Angeſicht zu ſehen — daß ſein Anblick auch mich reinige. —
Hier noch ein feiner, edler, großmuͤthiger, verſtaͤndiger — mehr Englaͤnder — als Jude;
mehr wohlerzogener Edelmann, als Chriſtus — Doch! wo ihr dieſe Stirn, Naſe und Augen ſeht —
ſteht ſtill! blickt dem Manne in die Seele — und bittet — erlaube mir dir nachzufolgen, wo du
hingehſt.
[Abbildung]
N. Chri-
*)
Das Originalgemaͤhlde iſt von einem unbekanten
Meiſter; und ob ich es gleich ſelber beſitze — (ich zaͤh-
le es unter die beſonderſten Erfreuungen der Fuͤrſehung,
daß es mir werden mußte) ſo darf ich doch ſagen —
noch keinen Kopf von dieſer Natuͤrlichkeit habe ich ge-
ſehen; und auf keinem Gemaͤhlde kann ich ſeliger ru-
hen. — Die Copie iſt ziemlich gut, aber viel zu hart.
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/592>, abgerufen am 23.02.2025. |