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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Anmerkungen zu einer physiognomischen Abhandlung.

Nur zweene Widersprüche führe ich noch an, die ihm nicht hätten entgehen sollen, und die
schwerlich irgend einem nachdenkenden Leser entgehen werden -- Der Verfasser sagt auf der einen
Seite so vortrefflich:

"Die pathognomischen Zeichen oft wiederholt, verschwinden nicht allemal völlig wieder,
"und lassen physiognomische Eindrücke zurück -- (Seite 15.) Daher entsteht das Thorheitsfältchen,
"durch alles Bewundern und nichts verstehen; das scheinheilige Betrügerfältchen; die Grübchen
"in den Wangen; das Eigensinnfältchen; und der Himmel weiß, was für Fältchen mehr. Pa-
"thognomische Verzerrung, die die Ausübung des Lasters begleitet, wird noch über das oft durch
"Krankheiten, die jenen folgen, deutlicher und scheußlicher, und so kann pathognomischer Ausdruck
"von Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Aufrichtigkeit, Andacht, und überhaupt moralische Schönheit in
"physische für den Kenner und Verehrer der moralischen übergehen, dieses ist der Grund der Gel-
"lertschen Physiognomik -- der einzigen wahren? ... die für die Tugend von unendlichem Nu-
"tzen ist, und die sich in wenig Worten fassen läßt: Tugend macht schöner -- Laster häß-
"licher.
"

Wirkung also hat der Zweig -- und keine der Stamm? die Frucht hat Physiognomie --
und der Baum keine? Das Lächeln der Selbstgenügsamkeit kann also auf dem demüthigsten Bo-
den -- die Miene der Thorheit aus dem Fond von Weisheit unmittelbar hervorgehen? Das Be-
trügerfältchen ist also nicht Resultat irgend einer innern Kraft oder Schwachheit? -- Alles ist nur
aufgeflickt? an Faden angehängt? Der Verfasser will uns immer auf die Zahlen an der Uhr auf-
merksam machen -- und spricht nicht von der Kraft der Uhr selbst -- Nehmet die Zahlenscheibe an
der Uhr weg -- der Zeiger geht doch; -- löscht diese pathognomischen Fältchen aus -- kluge Verstel-
lung kanns zuweilen -- die innere Triebkraft bleibt dieselbe. -- Welcher Widerspruch also -- Es
giebt ein Thorheitsfältchen -- und keinen Thorheitscharakter -- Der Tropfen ist sichtbar -- aber
das Meer nicht -- Und dann wie widersprechend ist auch das: -- "Es giebt eine Pathogno-
"mik -- diese aber ist so unnöthig (geschrieben zu werden) als eine Kunst zu lieben. (Seite 13.) Jn
"den Bewegungen der Gesichtsmuskeln und der Augen liegt das Meiste; jeder Mensch, der in der
"Welt lebt, lernt es finden -- Es lehren, heißt den Sand zählen wollen." (Seite 23.)

Und
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Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung.

Nur zweene Widerſpruͤche fuͤhre ich noch an, die ihm nicht haͤtten entgehen ſollen, und die
ſchwerlich irgend einem nachdenkenden Leſer entgehen werden — Der Verfaſſer ſagt auf der einen
Seite ſo vortrefflich:

„Die pathognomiſchen Zeichen oft wiederholt, verſchwinden nicht allemal voͤllig wieder,
„und laſſen phyſiognomiſche Eindruͤcke zuruͤck — (Seite 15.) Daher entſteht das Thorheitsfaͤltchen,
„durch alles Bewundern und nichts verſtehen; das ſcheinheilige Betruͤgerfaͤltchen; die Gruͤbchen
„in den Wangen; das Eigenſinnfaͤltchen; und der Himmel weiß, was fuͤr Faͤltchen mehr. Pa-
„thognomiſche Verzerrung, die die Ausuͤbung des Laſters begleitet, wird noch uͤber das oft durch
„Krankheiten, die jenen folgen, deutlicher und ſcheußlicher, und ſo kann pathognomiſcher Ausdruck
„von Freundlichkeit, Zaͤrtlichkeit, Aufrichtigkeit, Andacht, und uͤberhaupt moraliſche Schoͤnheit in
„phyſiſche fuͤr den Kenner und Verehrer der moraliſchen uͤbergehen, dieſes iſt der Grund der Gel-
„lertſchen Phyſiognomik — der einzigen wahren? ... die fuͤr die Tugend von unendlichem Nu-
„tzen iſt, und die ſich in wenig Worten faſſen laͤßt: Tugend macht ſchoͤner — Laſter haͤß-
„licher.

Wirkung alſo hat der Zweig — und keine der Stamm? die Frucht hat Phyſiognomie —
und der Baum keine? Das Laͤcheln der Selbſtgenuͤgſamkeit kann alſo auf dem demuͤthigſten Bo-
den — die Miene der Thorheit aus dem Fond von Weisheit unmittelbar hervorgehen? Das Be-
truͤgerfaͤltchen iſt alſo nicht Reſultat irgend einer innern Kraft oder Schwachheit? — Alles iſt nur
aufgeflickt? an Faden angehaͤngt? Der Verfaſſer will uns immer auf die Zahlen an der Uhr auf-
merkſam machen — und ſpricht nicht von der Kraft der Uhr ſelbſt — Nehmet die Zahlenſcheibe an
der Uhr weg — der Zeiger geht doch; — loͤſcht dieſe pathognomiſchen Faͤltchen aus — kluge Verſtel-
lung kanns zuweilen — die innere Triebkraft bleibt dieſelbe. — Welcher Widerſpruch alſo — Es
giebt ein Thorheitsfaͤltchen — und keinen Thorheitscharakter — Der Tropfen iſt ſichtbar — aber
das Meer nicht — Und dann wie widerſprechend iſt auch das: — „Es giebt eine Pathogno-
„mik — dieſe aber iſt ſo unnoͤthig (geſchrieben zu werden) als eine Kunſt zu lieben. (Seite 13.) Jn
„den Bewegungen der Geſichtsmuskeln und der Augen liegt das Meiſte; jeder Menſch, der in der
„Welt lebt, lernt es finden — Es lehren, heißt den Sand zaͤhlen wollen.“ (Seite 23.)

Und
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[35/0057] Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung. Nur zweene Widerſpruͤche fuͤhre ich noch an, die ihm nicht haͤtten entgehen ſollen, und die ſchwerlich irgend einem nachdenkenden Leſer entgehen werden — Der Verfaſſer ſagt auf der einen Seite ſo vortrefflich: „Die pathognomiſchen Zeichen oft wiederholt, verſchwinden nicht allemal voͤllig wieder, „und laſſen phyſiognomiſche Eindruͤcke zuruͤck — (Seite 15.) Daher entſteht das Thorheitsfaͤltchen, „durch alles Bewundern und nichts verſtehen; das ſcheinheilige Betruͤgerfaͤltchen; die Gruͤbchen „in den Wangen; das Eigenſinnfaͤltchen; und der Himmel weiß, was fuͤr Faͤltchen mehr. Pa- „thognomiſche Verzerrung, die die Ausuͤbung des Laſters begleitet, wird noch uͤber das oft durch „Krankheiten, die jenen folgen, deutlicher und ſcheußlicher, und ſo kann pathognomiſcher Ausdruck „von Freundlichkeit, Zaͤrtlichkeit, Aufrichtigkeit, Andacht, und uͤberhaupt moraliſche Schoͤnheit in „phyſiſche fuͤr den Kenner und Verehrer der moraliſchen uͤbergehen, dieſes iſt der Grund der Gel- „lertſchen Phyſiognomik — der einzigen wahren? ... die fuͤr die Tugend von unendlichem Nu- „tzen iſt, und die ſich in wenig Worten faſſen laͤßt: Tugend macht ſchoͤner — Laſter haͤß- „licher.“ Wirkung alſo hat der Zweig — und keine der Stamm? die Frucht hat Phyſiognomie — und der Baum keine? Das Laͤcheln der Selbſtgenuͤgſamkeit kann alſo auf dem demuͤthigſten Bo- den — die Miene der Thorheit aus dem Fond von Weisheit unmittelbar hervorgehen? Das Be- truͤgerfaͤltchen iſt alſo nicht Reſultat irgend einer innern Kraft oder Schwachheit? — Alles iſt nur aufgeflickt? an Faden angehaͤngt? Der Verfaſſer will uns immer auf die Zahlen an der Uhr auf- merkſam machen — und ſpricht nicht von der Kraft der Uhr ſelbſt — Nehmet die Zahlenſcheibe an der Uhr weg — der Zeiger geht doch; — loͤſcht dieſe pathognomiſchen Faͤltchen aus — kluge Verſtel- lung kanns zuweilen — die innere Triebkraft bleibt dieſelbe. — Welcher Widerſpruch alſo — Es giebt ein Thorheitsfaͤltchen — und keinen Thorheitscharakter — Der Tropfen iſt ſichtbar — aber das Meer nicht — Und dann wie widerſprechend iſt auch das: — „Es giebt eine Pathogno- „mik — dieſe aber iſt ſo unnoͤthig (geſchrieben zu werden) als eine Kunſt zu lieben. (Seite 13.) Jn „den Bewegungen der Geſichtsmuskeln und der Augen liegt das Meiſte; jeder Menſch, der in der „Welt lebt, lernt es finden — Es lehren, heißt den Sand zaͤhlen wollen.“ (Seite 23.) Und E 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/57>, abgerufen am 25.11.2024.