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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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IX. Abschnitt. II. Fragment.
Jsraelitische -- oder das Messianische.*) Und wenn allenfalls zur höchsten Seltenheit diese
vier Charakter noch so ziemlich zusammengeschmolzen sind, so sind sie's höchstens nur für wenige
Momente.
Jn hundert andere Momente des messianischen Charakters paßt das Gesicht und die
Gesichtsform nicht. Man frage sich bey allen vorkommenden Christusbildern, nicht nur: "Paßt
"diese Miene für den gegenwärtigen Moment?" sondern man frage allervörderst: "Paßt diese
"Gesichtsform zu allen bekannten charakteristischen Momenten des göttlichen Sohnes, der im-
"mer zugleich Menschensohn und Messias war?" Nicht nur: "Sagt dieß Gesicht gerade itzt
"ungefähr das, was es sagen soll?" -- Sondern: "Kann dieß Gesicht alles sagen und leiden
"und thun -- was wir von Christus wissen?" Die Miene für den Moment täuscht uns gar oft,
besticht unser Urtheil für den ganzen Charakter, und wenn die Miene vorüber ist, so sehen wir nichts
mehr. Ueber das beste Gesicht kann oft wie über den hellesten Himmel ein Wölkgen einer schlech-
ten Miene hineilen; und umgekehrt: der ächte Mahler studiert den Hauptcharakter und die Grund-
form. Die Kraft zu wirken und zu leiden -- zu Boden zu stürzen, und Vater vergieb -- zu fle-
hen -- hebe dich Satan -- und ich bin gekommen, das Verlorne zu suchen und selig zu
machen
-- dieselbe Eine Kraft durch annähernde einfache und unzusammengeflickte Linien
auszudrücken: hoc opus, hic labor! Es ist möglich, solche Linien zu finden; aber unmöglich,
alle zu finden und alle mit einander zu verbinden. Denn wenn der geschickteste Mahler Christum
vor sich sähe, wäre an keine gute Copie zu denken. Entweder würde der Mahler die Hoheit und
Unerreichbarkeit des Urbildes fühlen, oder nicht. Jn beyden Fällen könnte er nicht treu kopiren.
Die Liebe, die ihm die Augen aufschlösse, würde ihm die Hände binden. Und freye Hände ohne
geöffnete Augen -- was wären sie? Jndessen ist's doch wichtig, daß man strebe, Versuche zu ma-
chen -- "non ut dicatur quid," wie Augustin bey einem gewissen Anlasse sagt -- "sed ne
"taceatur."

Bessere
*) [Spaltenumbruch]
Warum findet sich unter allen antiken Köpfen kei-
ner, von dem irgend ein Mahler oder Menschenkenner
jemals sagen würde -- "Der dürfte vielleicht Christus
"ähnlich seyn!" Unter andern vielen Gründen, weil
Demuth und Liebe fehlen? Apollo hat keinen Funken
[Spaltenumbruch] vom Geist einer Christusphysiognomie -- und dieser ist
noch der menschlichste der alten Götter. Viel weniger
hat es irgend ein Jupitersgesicht -- kein Göttergesicht
ist, von dem man sagen könnte -- In una sede mo-
rantur majestas et amor.

IX. Abſchnitt. II. Fragment.
Jſraelitiſche — oder das Meſſianiſche.*) Und wenn allenfalls zur hoͤchſten Seltenheit dieſe
vier Charakter noch ſo ziemlich zuſammengeſchmolzen ſind, ſo ſind ſie’s hoͤchſtens nur fuͤr wenige
Momente.
Jn hundert andere Momente des meſſianiſchen Charakters paßt das Geſicht und die
Geſichtsform nicht. Man frage ſich bey allen vorkommenden Chriſtusbildern, nicht nur: „Paßt
„dieſe Miene fuͤr den gegenwaͤrtigen Moment?“ ſondern man frage allervoͤrderſt: „Paßt dieſe
Geſichtsform zu allen bekannten charakteriſtiſchen Momenten des goͤttlichen Sohnes, der im-
„mer zugleich Menſchenſohn und Meſſias war?“ Nicht nur: „Sagt dieß Geſicht gerade itzt
„ungefaͤhr das, was es ſagen ſoll?“ — Sondern: „Kann dieß Geſicht alles ſagen und leiden
„und thun — was wir von Chriſtus wiſſen?“ Die Miene fuͤr den Moment taͤuſcht uns gar oft,
beſticht unſer Urtheil fuͤr den ganzen Charakter, und wenn die Miene voruͤber iſt, ſo ſehen wir nichts
mehr. Ueber das beſte Geſicht kann oft wie uͤber den helleſten Himmel ein Woͤlkgen einer ſchlech-
ten Miene hineilen; und umgekehrt: der aͤchte Mahler ſtudiert den Hauptcharakter und die Grund-
form. Die Kraft zu wirken und zu leiden — zu Boden zu ſtuͤrzen, und Vater vergieb — zu fle-
hen — hebe dich Satan — und ich bin gekommen, das Verlorne zu ſuchen und ſelig zu
machen
— dieſelbe Eine Kraft durch annaͤhernde einfache und unzuſammengeflickte Linien
auszudruͤcken: hoc opus, hic labor! Es iſt moͤglich, ſolche Linien zu finden; aber unmoͤglich,
alle zu finden und alle mit einander zu verbinden. Denn wenn der geſchickteſte Mahler Chriſtum
vor ſich ſaͤhe, waͤre an keine gute Copie zu denken. Entweder wuͤrde der Mahler die Hoheit und
Unerreichbarkeit des Urbildes fuͤhlen, oder nicht. Jn beyden Faͤllen koͤnnte er nicht treu kopiren.
Die Liebe, die ihm die Augen aufſchloͤſſe, wuͤrde ihm die Haͤnde binden. Und freye Haͤnde ohne
geoͤffnete Augen — was waͤren ſie? Jndeſſen iſt’s doch wichtig, daß man ſtrebe, Verſuche zu ma-
chen — „non ut dicatur quid,“ wie Auguſtin bey einem gewiſſen Anlaſſe ſagt — „ſed ne
„taceatur.“

Beſſere
*) [Spaltenumbruch]
Warum findet ſich unter allen antiken Koͤpfen kei-
ner, von dem irgend ein Mahler oder Menſchenkenner
jemals ſagen wuͤrde — „Der duͤrfte vielleicht Chriſtus
„aͤhnlich ſeyn!“ Unter andern vielen Gruͤnden, weil
Demuth und Liebe fehlen? Apollo hat keinen Funken
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noch der menſchlichſte der alten Goͤtter. Viel weniger
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rantur majeſtas et amor.
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[434/0554] IX. Abſchnitt. II. Fragment. Jſraelitiſche — oder das Meſſianiſche. *) Und wenn allenfalls zur hoͤchſten Seltenheit dieſe vier Charakter noch ſo ziemlich zuſammengeſchmolzen ſind, ſo ſind ſie’s hoͤchſtens nur fuͤr wenige Momente. Jn hundert andere Momente des meſſianiſchen Charakters paßt das Geſicht und die Geſichtsform nicht. Man frage ſich bey allen vorkommenden Chriſtusbildern, nicht nur: „Paßt „dieſe Miene fuͤr den gegenwaͤrtigen Moment?“ ſondern man frage allervoͤrderſt: „Paßt dieſe „Geſichtsform zu allen bekannten charakteriſtiſchen Momenten des goͤttlichen Sohnes, der im- „mer zugleich Menſchenſohn und Meſſias war?“ Nicht nur: „Sagt dieß Geſicht gerade itzt „ungefaͤhr das, was es ſagen ſoll?“ — Sondern: „Kann dieß Geſicht alles ſagen und leiden „und thun — was wir von Chriſtus wiſſen?“ Die Miene fuͤr den Moment taͤuſcht uns gar oft, beſticht unſer Urtheil fuͤr den ganzen Charakter, und wenn die Miene voruͤber iſt, ſo ſehen wir nichts mehr. Ueber das beſte Geſicht kann oft wie uͤber den helleſten Himmel ein Woͤlkgen einer ſchlech- ten Miene hineilen; und umgekehrt: der aͤchte Mahler ſtudiert den Hauptcharakter und die Grund- form. Die Kraft zu wirken und zu leiden — zu Boden zu ſtuͤrzen, und Vater vergieb — zu fle- hen — hebe dich Satan — und ich bin gekommen, das Verlorne zu ſuchen und ſelig zu machen — dieſelbe Eine Kraft durch annaͤhernde einfache und unzuſammengeflickte Linien auszudruͤcken: hoc opus, hic labor! Es iſt moͤglich, ſolche Linien zu finden; aber unmoͤglich, alle zu finden und alle mit einander zu verbinden. Denn wenn der geſchickteſte Mahler Chriſtum vor ſich ſaͤhe, waͤre an keine gute Copie zu denken. Entweder wuͤrde der Mahler die Hoheit und Unerreichbarkeit des Urbildes fuͤhlen, oder nicht. Jn beyden Faͤllen koͤnnte er nicht treu kopiren. Die Liebe, die ihm die Augen aufſchloͤſſe, wuͤrde ihm die Haͤnde binden. Und freye Haͤnde ohne geoͤffnete Augen — was waͤren ſie? Jndeſſen iſt’s doch wichtig, daß man ſtrebe, Verſuche zu ma- chen — „non ut dicatur quid,“ wie Auguſtin bey einem gewiſſen Anlaſſe ſagt — „ſed ne „taceatur.“ Beſſere *) Warum findet ſich unter allen antiken Koͤpfen kei- ner, von dem irgend ein Mahler oder Menſchenkenner jemals ſagen wuͤrde — „Der duͤrfte vielleicht Chriſtus „aͤhnlich ſeyn!“ Unter andern vielen Gruͤnden, weil Demuth und Liebe fehlen? Apollo hat keinen Funken vom Geiſt einer Chriſtusphyſiognomie — und dieſer iſt noch der menſchlichſte der alten Goͤtter. Viel weniger hat es irgend ein Jupitersgeſicht — kein Goͤttergeſicht iſt, von dem man ſagen koͤnnte — In una ſede mo- rantur majeſtas et amor.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/554>, abgerufen am 23.11.2024.