wesen, als das von einem Wachsbilde) an jeder Statue bemerkt ein mittelmäßiger Kenner das Abgeschlagene, Abgefeilte, Angeflickte, Abgeschliffene späterer Hand -- Warum sollt' es am Men- schen unerkennbar seyn? Warum die Urform des Menschen nicht mehr durch alle Zufälle durchschei- nen können, als die Schönheit und Größe einer herrlichen Statue auch noch in der stumpfen Trüm- mer sichtbar ist?
"Füllt die Seele den Körper, wie ein elastisches Flüssige, das allezeit die Form des Gefäs- "ses annimmt; so daß, wenn eine platte Nase Schadenfreude bedeutet, der schadenfroh wird, dem "man die Nase platt drückt? (Seite 6.)
Man mag die Frage mit Ja oder Nein beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey.
Sagt man Ja -- die Seele füllt den Körper, wie ein clastisches Flüssiges, das allezeit die Form des Gefäßes annimmt -- Was ist denn gewonnen? Würde denn daraus folgen -- daß durch eine Stümpfung der Nase so viel von ihrer innern Elastizität verloren gienge, als erfor- dert wurde, diese Nase herauszutreiben?
Sagt man Nein -- Alle diese Gleichnisse sind nur für gewisse Fälle zur Erläuterung be- quem; mit nichten soll daraus, als aus Factis, gefolgert werden, was ist dann wieder gewonnen?
Was aber hätte man dennoch auf eine weniger witzelnde -- auf die ganz simple Frage zu antworten? "Hat man keine Beyspiele -- daß Verstümmelung des Körpers die Seele verstüm- "melt? daß Verletzung, Verdrückung des Hirnschädels den Verstand raubt? daß Castration aus "einem Manne ein halbes Weib macht?" -- Aber Witz mit Vernunft beantworten -- sagt ein witziger Schriftsteller, heißt -- "einen Aal beym Schwanze festhalten wollen."
Wir unterschreiben den Gedanken von Herzen, daß es unsinnig sey zu behaupten: "Die "schönste Seele bewohne den schönsten Körper, und die häßlichste den häßlichsten." Wir haben uns hierüber in vorigen Fragmenten so hinlänglich erklärt, daß es unbegreiflich scheint, wie man uns diesen so hingeworfenen Gedanken noch aufbürden könne -- wir sagen nur: Es giebt eine Pro- portion und Schönheit der Körper, die der schönsten Tugenden und großer Empfindungen und Tha- ten empfänglicher ist, als gewisse schlechte. Wir sagen nur mit dem Verfasser -- Tugend macht
schöner,
I.Abſchnitt.I.Fragment.
weſen, als das von einem Wachsbilde) an jeder Statue bemerkt ein mittelmaͤßiger Kenner das Abgeſchlagene, Abgefeilte, Angeflickte, Abgeſchliffene ſpaͤterer Hand — Warum ſollt’ es am Men- ſchen unerkennbar ſeyn? Warum die Urform des Menſchen nicht mehr durch alle Zufaͤlle durchſchei- nen koͤnnen, als die Schoͤnheit und Groͤße einer herrlichen Statue auch noch in der ſtumpfen Truͤm- mer ſichtbar iſt?
„Fuͤllt die Seele den Koͤrper, wie ein elaſtiſches Fluͤſſige, das allezeit die Form des Gefaͤſ- „ſes annimmt; ſo daß, wenn eine platte Naſe Schadenfreude bedeutet, der ſchadenfroh wird, dem „man die Naſe platt druͤckt? (Seite 6.)
Man mag die Frage mit Ja oder Nein beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey.
Sagt man Ja — die Seele fuͤllt den Koͤrper, wie ein claſtiſches Fluͤſſiges, das allezeit die Form des Gefaͤßes annimmt — Was iſt denn gewonnen? Wuͤrde denn daraus folgen — daß durch eine Stuͤmpfung der Naſe ſo viel von ihrer innern Elaſtizitaͤt verloren gienge, als erfor- dert wurde, dieſe Naſe herauszutreiben?
Sagt man Nein — Alle dieſe Gleichniſſe ſind nur fuͤr gewiſſe Faͤlle zur Erlaͤuterung be- quem; mit nichten ſoll daraus, als aus Factis, gefolgert werden, was iſt dann wieder gewonnen?
Was aber haͤtte man dennoch auf eine weniger witzelnde — auf die ganz ſimple Frage zu antworten? „Hat man keine Beyſpiele — daß Verſtuͤmmelung des Koͤrpers die Seele verſtuͤm- „melt? daß Verletzung, Verdruͤckung des Hirnſchaͤdels den Verſtand raubt? daß Caſtration aus „einem Manne ein halbes Weib macht?“ — Aber Witz mit Vernunft beantworten — ſagt ein witziger Schriftſteller, heißt — „einen Aal beym Schwanze feſthalten wollen.“
Wir unterſchreiben den Gedanken von Herzen, daß es unſinnig ſey zu behaupten: „Die „ſchoͤnſte Seele bewohne den ſchoͤnſten Koͤrper, und die haͤßlichſte den haͤßlichſten.“ Wir haben uns hieruͤber in vorigen Fragmenten ſo hinlaͤnglich erklaͤrt, daß es unbegreiflich ſcheint, wie man uns dieſen ſo hingeworfenen Gedanken noch aufbuͤrden koͤnne — wir ſagen nur: Es giebt eine Pro- portion und Schoͤnheit der Koͤrper, die der ſchoͤnſten Tugenden und großer Empfindungen und Tha- ten empfaͤnglicher iſt, als gewiſſe ſchlechte. Wir ſagen nur mit dem Verfaſſer — Tugend macht
ſchoͤner,
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I. Abſchnitt. I. Fragment.
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ſchen unerkennbar ſeyn? Warum die Urform des Menſchen nicht mehr durch alle Zufaͤlle durchſchei-
nen koͤnnen, als die Schoͤnheit und Groͤße einer herrlichen Statue auch noch in der ſtumpfen Truͤm-
mer ſichtbar iſt?
„Fuͤllt die Seele den Koͤrper, wie ein elaſtiſches Fluͤſſige, das allezeit die Form des Gefaͤſ-
„ſes annimmt; ſo daß, wenn eine platte Naſe Schadenfreude bedeutet, der ſchadenfroh wird, dem
„man die Naſe platt druͤckt? (Seite 6.)
Man mag die Frage mit Ja oder Nein beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey.
Sagt man Ja — die Seele fuͤllt den Koͤrper, wie ein claſtiſches Fluͤſſiges, das allezeit die
Form des Gefaͤßes annimmt — Was iſt denn gewonnen? Wuͤrde denn daraus folgen — daß
durch eine Stuͤmpfung der Naſe ſo viel von ihrer innern Elaſtizitaͤt verloren gienge, als erfor-
dert wurde, dieſe Naſe herauszutreiben?
Sagt man Nein — Alle dieſe Gleichniſſe ſind nur fuͤr gewiſſe Faͤlle zur Erlaͤuterung be-
quem; mit nichten ſoll daraus, als aus Factis, gefolgert werden, was iſt dann wieder gewonnen?
Was aber haͤtte man dennoch auf eine weniger witzelnde — auf die ganz ſimple Frage zu
antworten? „Hat man keine Beyſpiele — daß Verſtuͤmmelung des Koͤrpers die Seele verſtuͤm-
„melt? daß Verletzung, Verdruͤckung des Hirnſchaͤdels den Verſtand raubt? daß Caſtration aus
„einem Manne ein halbes Weib macht?“ — Aber Witz mit Vernunft beantworten — ſagt ein
witziger Schriftſteller, heißt — „einen Aal beym Schwanze feſthalten wollen.“
Wir unterſchreiben den Gedanken von Herzen, daß es unſinnig ſey zu behaupten: „Die
„ſchoͤnſte Seele bewohne den ſchoͤnſten Koͤrper, und die haͤßlichſte den haͤßlichſten.“ Wir haben
uns hieruͤber in vorigen Fragmenten ſo hinlaͤnglich erklaͤrt, daß es unbegreiflich ſcheint, wie man
uns dieſen ſo hingeworfenen Gedanken noch aufbuͤrden koͤnne — wir ſagen nur: Es giebt eine Pro-
portion und Schoͤnheit der Koͤrper, die der ſchoͤnſten Tugenden und großer Empfindungen und Tha-
ten empfaͤnglicher iſt, als gewiſſe ſchlechte. Wir ſagen nur mit dem Verfaſſer — Tugend macht
ſchoͤner,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/54>, abgerufen am 16.02.2025.
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