Gekratzt, wenn man will, nach West; aber doch nicht ganz schülerhaft! Uebrigens ein herrlicher Text für den Physiognomisten. Das Länglichte der Gestalt und die da- mit verbundene unsanguinische Trockenheit schickt sich überhaupt trefflich zu Ugolino's Charakter. So einfach verschlossen in sich selbst sitzt der planvolle Mann in dumpfem festem Hinstaunen, uner- bittlich und unerschüttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkulische Stärke, die den Schmerz zertritt, und das Unglück wegschlägt. Seine Stärke liegt in den Nerven. Diese verschlingen Schmerz und Elend mit stiller Duldung.
Sonst ist wider das Gesicht von Seite der Zeichnung und der Physiognomie manches ein- zuwenden; die Augen sind offenbar zu weit von einander, und dieß schwächt die Kraft der Duldung gar sehr. Die Augenbraunen sind zu hoch, und ungleich. An sich vortrefflich drückt die rechte Schmerz, Hunger und duldende Stärke aus; aber es ist unmöglich, daß sie sich so hinaufziehen könne, wenn die andere sich so herabsenkt. Ferner ist's häufige Beobachtung, daß die Stirnen mit starken Buckeln über und tiefem Einbuge zwischen den Augenbraunen von sehr empfindlicher un- elastischer Reizbarkeit sind. Sie leiden ohne Widerstand, erliegen im Leiden, oder helfen sich mit kraftloser Rache und bloßem Zornschaum. Auch ist offenbar das Auge von der Nasenspitze, oder diese von jenem zu entfernt. Alle Gedehntheit schwächt. Unvergleichlich hingegen ist der un- tere Theil des Gesichtes; Haarwuchs und Bart; -- zu schwach und unbestimmt aber der Hals.
C. Ster-
VIII. Abſchnitt. IX. Fragment.
B.Ugolino.
Des IV Ban- des XLV. Ta- fel. Ugolino.
Gekratzt, wenn man will, nach Weſt; aber doch nicht ganz ſchuͤlerhaft! Uebrigens ein herrlicher Text fuͤr den Phyſiognomiſten. Das Laͤnglichte der Geſtalt und die da- mit verbundene unſanguiniſche Trockenheit ſchickt ſich uͤberhaupt trefflich zu Ugolino’s Charakter. So einfach verſchloſſen in ſich ſelbſt ſitzt der planvolle Mann in dumpfem feſtem Hinſtaunen, uner- bittlich und unerſchuͤttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkuliſche Staͤrke, die den Schmerz zertritt, und das Ungluͤck wegſchlaͤgt. Seine Staͤrke liegt in den Nerven. Dieſe verſchlingen Schmerz und Elend mit ſtiller Duldung.
Sonſt iſt wider das Geſicht von Seite der Zeichnung und der Phyſiognomie manches ein- zuwenden; die Augen ſind offenbar zu weit von einander, und dieß ſchwaͤcht die Kraft der Duldung gar ſehr. Die Augenbraunen ſind zu hoch, und ungleich. An ſich vortrefflich druͤckt die rechte Schmerz, Hunger und duldende Staͤrke aus; aber es iſt unmoͤglich, daß ſie ſich ſo hinaufziehen koͤnne, wenn die andere ſich ſo herabſenkt. Ferner iſt’s haͤufige Beobachtung, daß die Stirnen mit ſtarken Buckeln uͤber und tiefem Einbuge zwiſchen den Augenbraunen von ſehr empfindlicher un- elaſtiſcher Reizbarkeit ſind. Sie leiden ohne Widerſtand, erliegen im Leiden, oder helfen ſich mit kraftloſer Rache und bloßem Zornſchaum. Auch iſt offenbar das Auge von der Naſenſpitze, oder dieſe von jenem zu entfernt. Alle Gedehntheit ſchwaͤcht. Unvergleichlich hingegen iſt der un- tere Theil des Geſichtes; Haarwuchs und Bart; — zu ſchwach und unbeſtimmt aber der Hals.
C. Ster-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0518"n="414"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">VIII.</hi> Abſchnitt. <hirendition="#aq">IX.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/><divn="4"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">B.</hi><hirendition="#g">Ugolino</hi>.</hi></head><lb/><noteplace="left">Des <hirendition="#aq">IV</hi> Ban-<lb/>
des <hirendition="#aq">XLV.</hi> Ta-<lb/>
fel. Ugolino.</note><p><hirendition="#in">G</hi>ekratzt, wenn man will, nach <hirendition="#fr">Weſt;</hi> aber doch nicht ganz ſchuͤlerhaft! Uebrigens<lb/>
ein herrlicher Text fuͤr den Phyſiognomiſten. Das Laͤnglichte der Geſtalt und die da-<lb/>
mit verbundene unſanguiniſche Trockenheit ſchickt ſich uͤberhaupt trefflich zu <hirendition="#fr">Ugolino’s</hi> Charakter.<lb/>
So einfach verſchloſſen in ſich ſelbſt ſitzt der planvolle Mann in dumpfem feſtem Hinſtaunen, uner-<lb/>
bittlich und unerſchuͤttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkuliſche Staͤrke, die<lb/>
den Schmerz zertritt, und das Ungluͤck wegſchlaͤgt. Seine Staͤrke liegt in den Nerven. Dieſe<lb/>
verſchlingen Schmerz und Elend mit ſtiller Duldung.</p><lb/><p>Sonſt iſt wider das Geſicht von Seite der Zeichnung und der Phyſiognomie manches ein-<lb/>
zuwenden; die Augen ſind offenbar zu weit von einander, und dieß ſchwaͤcht die Kraft der Duldung<lb/>
gar ſehr. Die Augenbraunen ſind zu hoch, und ungleich. An ſich vortrefflich druͤckt die rechte<lb/>
Schmerz, Hunger und duldende Staͤrke aus; aber es iſt unmoͤglich, daß ſie ſich ſo hinaufziehen<lb/>
koͤnne, wenn die andere ſich ſo herabſenkt. Ferner iſt’s haͤufige Beobachtung, daß die Stirnen mit<lb/>ſtarken Buckeln <hirendition="#fr">uͤber</hi> und tiefem Einbuge <hirendition="#fr">zwiſchen</hi> den Augenbraunen von ſehr empfindlicher <hirendition="#fr">un-<lb/>
elaſtiſcher</hi> Reizbarkeit ſind. Sie leiden ohne Widerſtand, erliegen im Leiden, oder helfen ſich mit<lb/>
kraftloſer Rache und bloßem Zornſchaum. Auch iſt offenbar das Auge von der Naſenſpitze, oder<lb/>
dieſe von jenem zu entfernt. <hirendition="#fr">Alle Gedehntheit ſchwaͤcht.</hi> Unvergleichlich hingegen iſt der un-<lb/>
tere Theil des Geſichtes; Haarwuchs und Bart; — zu ſchwach und unbeſtimmt aber der Hals.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">C.</hi> Ster-</fw><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[414/0518]
VIII. Abſchnitt. IX. Fragment.
B. Ugolino.
Gekratzt, wenn man will, nach Weſt; aber doch nicht ganz ſchuͤlerhaft! Uebrigens
ein herrlicher Text fuͤr den Phyſiognomiſten. Das Laͤnglichte der Geſtalt und die da-
mit verbundene unſanguiniſche Trockenheit ſchickt ſich uͤberhaupt trefflich zu Ugolino’s Charakter.
So einfach verſchloſſen in ſich ſelbſt ſitzt der planvolle Mann in dumpfem feſtem Hinſtaunen, uner-
bittlich und unerſchuͤttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkuliſche Staͤrke, die
den Schmerz zertritt, und das Ungluͤck wegſchlaͤgt. Seine Staͤrke liegt in den Nerven. Dieſe
verſchlingen Schmerz und Elend mit ſtiller Duldung.
Sonſt iſt wider das Geſicht von Seite der Zeichnung und der Phyſiognomie manches ein-
zuwenden; die Augen ſind offenbar zu weit von einander, und dieß ſchwaͤcht die Kraft der Duldung
gar ſehr. Die Augenbraunen ſind zu hoch, und ungleich. An ſich vortrefflich druͤckt die rechte
Schmerz, Hunger und duldende Staͤrke aus; aber es iſt unmoͤglich, daß ſie ſich ſo hinaufziehen
koͤnne, wenn die andere ſich ſo herabſenkt. Ferner iſt’s haͤufige Beobachtung, daß die Stirnen mit
ſtarken Buckeln uͤber und tiefem Einbuge zwiſchen den Augenbraunen von ſehr empfindlicher un-
elaſtiſcher Reizbarkeit ſind. Sie leiden ohne Widerſtand, erliegen im Leiden, oder helfen ſich mit
kraftloſer Rache und bloßem Zornſchaum. Auch iſt offenbar das Auge von der Naſenſpitze, oder
dieſe von jenem zu entfernt. Alle Gedehntheit ſchwaͤcht. Unvergleichlich hingegen iſt der un-
tere Theil des Geſichtes; Haarwuchs und Bart; — zu ſchwach und unbeſtimmt aber der Hals.
C. Ster-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/518>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.