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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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VI. Abschnitt. I. Fragment.

Wie immer die innere Natur der Körper beschaffen seyn mag, wie immer der Stoff, die
Zusammensetzung der Stoffe, die Organisation, Blutmischung, Nervenbau, Lebensart,
Nahrung;
-- das Facit von dem allen ist dennoch -- ein bestimmter Grad von Reizbarkeit
gegen einen gegebenen Punkt. -- Wie also, deucht mich, die Elastizität der Luft durch ihre Tem-
peratur
verschieden ist, und sich nicht durch innere Zergliederungen, sondern durch die Grade ih-
rer Wirksamkeit bestimmen läßt; so, deucht mich, verhält es sich mit den Temperamenten des
menschlichen Körpers; ihre innerliche Zergliederung ist unmöglich, oder schwer möglich. Das Fa-
cit ihrer Jngredienzien, und die Mischung derselben wird indessen immer Eins -- Ein gewisser
Grad von Reizbarkeit bey einem gegebenen Reizungspunkt.

Gewissermaßen also barometrisch und thermometrisch ließen sich, glaube ich, alle Tempera-
mente viel richtiger und leichter bestimmen -- als nach der gewöhnlichen Eintheilung -- die in so-
fern freylich immer Statt haben könnte -- wenn es sich ergäbe -- daß bey gewissen Mischungen, die
wir itzt melancholisch oder sanguinisch nennen, nie ein gewisser Grad von Reizbarkeit und Nicht-
reizbarkeit möglich wäre -- daß z. E. bey der Mischung, die man die melancholische nennt, der
Grad der Reizbarkeit bey einem gemeinsamen Gegenstande nie zum Tempere' hinauf -- die chole-
rische
nie unters Tempere' herunterstiege?

Reizbarkeit könnte auch bey den vier gemeinen Temperamenten nach ihrer anzusehenden
Wirkungsart in Höhe, Tiefe, Weite und Nähe bemerkt werden. So ist das cholerische am reiz-
barsten in alle Arten von Höhe, ohne Gefahr zu scheuen -- das furchtsamste melancholische hin-
gegen reizbar in alle Arten von Tiefe, wo es nur sichern Grund finden oder vermuthen kann; das
sanguinische in alle Arten von Weite, bis zur Zerstreuung ins Unendliche; das phlegmatische
weder in große Weite, noch Höhe, noch Tiefe reizbar, nur zu dem, was es in Ruhe bequem am
nächsten erlangen kann, geht so der Nähe nach, glatten Wegs hin nach seinem kleinen oder mäßigen
Horizont, keinen Schritt leicht weiter, in gleichgültigem Nichtachten alles übrigen, zur ökonomisch-
epikurischen Gartenphilosophie noch am bequemsten. Indolentia ist eigentlich das höchste Gut --
des Phlegma wie des Epikurs.

Wir würden, wenn die Temperatur des menschlichen Körpers wie die Luft bestimmt wür-
de -- also bloß das Wefentliche, die Summe des Temperaments, das, was uns seine Kennt-
niß eigentlich brauchbarer machen würde, durch Grade der Reizbarkeit ausdrücken.

Von
VI. Abſchnitt. I. Fragment.

Wie immer die innere Natur der Koͤrper beſchaffen ſeyn mag, wie immer der Stoff, die
Zuſammenſetzung der Stoffe, die Organiſation, Blutmiſchung, Nervenbau, Lebensart,
Nahrung;
— das Facit von dem allen iſt dennoch — ein beſtimmter Grad von Reizbarkeit
gegen einen gegebenen Punkt. — Wie alſo, deucht mich, die Elaſtizitaͤt der Luft durch ihre Tem-
peratur
verſchieden iſt, und ſich nicht durch innere Zergliederungen, ſondern durch die Grade ih-
rer Wirkſamkeit beſtimmen laͤßt; ſo, deucht mich, verhaͤlt es ſich mit den Temperamenten des
menſchlichen Koͤrpers; ihre innerliche Zergliederung iſt unmoͤglich, oder ſchwer moͤglich. Das Fa-
cit ihrer Jngredienzien, und die Miſchung derſelben wird indeſſen immer Eins — Ein gewiſſer
Grad von Reizbarkeit bey einem gegebenen Reizungspunkt.

Gewiſſermaßen alſo barometriſch und thermometriſch ließen ſich, glaube ich, alle Tempera-
mente viel richtiger und leichter beſtimmen — als nach der gewoͤhnlichen Eintheilung — die in ſo-
fern freylich immer Statt haben koͤnnte — wenn es ſich ergaͤbe — daß bey gewiſſen Miſchungen, die
wir itzt melancholiſch oder ſanguiniſch nennen, nie ein gewiſſer Grad von Reizbarkeit und Nicht-
reizbarkeit moͤglich waͤre — daß z. E. bey der Miſchung, die man die melancholiſche nennt, der
Grad der Reizbarkeit bey einem gemeinſamen Gegenſtande nie zum Tempere’ hinauf — die chole-
riſche
nie unters Tempere’ herunterſtiege?

Reizbarkeit koͤnnte auch bey den vier gemeinen Temperamenten nach ihrer anzuſehenden
Wirkungsart in Hoͤhe, Tiefe, Weite und Naͤhe bemerkt werden. So iſt das choleriſche am reiz-
barſten in alle Arten von Hoͤhe, ohne Gefahr zu ſcheuen — das furchtſamſte melancholiſche hin-
gegen reizbar in alle Arten von Tiefe, wo es nur ſichern Grund finden oder vermuthen kann; das
ſanguiniſche in alle Arten von Weite, bis zur Zerſtreuung ins Unendliche; das phlegmatiſche
weder in große Weite, noch Hoͤhe, noch Tiefe reizbar, nur zu dem, was es in Ruhe bequem am
naͤchſten erlangen kann, geht ſo der Naͤhe nach, glatten Wegs hin nach ſeinem kleinen oder maͤßigen
Horizont, keinen Schritt leicht weiter, in gleichguͤltigem Nichtachten alles uͤbrigen, zur oͤkonomiſch-
epikuriſchen Gartenphiloſophie noch am bequemſten. Indolentia iſt eigentlich das hoͤchſte Gut —
des Phlegma wie des Epikurs.

Wir wuͤrden, wenn die Temperatur des menſchlichen Koͤrpers wie die Luft beſtimmt wuͤr-
de — alſo bloß das Wefentliche, die Summe des Temperaments, das, was uns ſeine Kennt-
niß eigentlich brauchbarer machen wuͤrde, durch Grade der Reizbarkeit ausdruͤcken.

Von
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[346/0408] VI. Abſchnitt. I. Fragment. Wie immer die innere Natur der Koͤrper beſchaffen ſeyn mag, wie immer der Stoff, die Zuſammenſetzung der Stoffe, die Organiſation, Blutmiſchung, Nervenbau, Lebensart, Nahrung; — das Facit von dem allen iſt dennoch — ein beſtimmter Grad von Reizbarkeit gegen einen gegebenen Punkt. — Wie alſo, deucht mich, die Elaſtizitaͤt der Luft durch ihre Tem- peratur verſchieden iſt, und ſich nicht durch innere Zergliederungen, ſondern durch die Grade ih- rer Wirkſamkeit beſtimmen laͤßt; ſo, deucht mich, verhaͤlt es ſich mit den Temperamenten des menſchlichen Koͤrpers; ihre innerliche Zergliederung iſt unmoͤglich, oder ſchwer moͤglich. Das Fa- cit ihrer Jngredienzien, und die Miſchung derſelben wird indeſſen immer Eins — Ein gewiſſer Grad von Reizbarkeit bey einem gegebenen Reizungspunkt. Gewiſſermaßen alſo barometriſch und thermometriſch ließen ſich, glaube ich, alle Tempera- mente viel richtiger und leichter beſtimmen — als nach der gewoͤhnlichen Eintheilung — die in ſo- fern freylich immer Statt haben koͤnnte — wenn es ſich ergaͤbe — daß bey gewiſſen Miſchungen, die wir itzt melancholiſch oder ſanguiniſch nennen, nie ein gewiſſer Grad von Reizbarkeit und Nicht- reizbarkeit moͤglich waͤre — daß z. E. bey der Miſchung, die man die melancholiſche nennt, der Grad der Reizbarkeit bey einem gemeinſamen Gegenſtande nie zum Tempere’ hinauf — die chole- riſche nie unters Tempere’ herunterſtiege? Reizbarkeit koͤnnte auch bey den vier gemeinen Temperamenten nach ihrer anzuſehenden Wirkungsart in Hoͤhe, Tiefe, Weite und Naͤhe bemerkt werden. So iſt das choleriſche am reiz- barſten in alle Arten von Hoͤhe, ohne Gefahr zu ſcheuen — das furchtſamſte melancholiſche hin- gegen reizbar in alle Arten von Tiefe, wo es nur ſichern Grund finden oder vermuthen kann; das ſanguiniſche in alle Arten von Weite, bis zur Zerſtreuung ins Unendliche; das phlegmatiſche weder in große Weite, noch Hoͤhe, noch Tiefe reizbar, nur zu dem, was es in Ruhe bequem am naͤchſten erlangen kann, geht ſo der Naͤhe nach, glatten Wegs hin nach ſeinem kleinen oder maͤßigen Horizont, keinen Schritt leicht weiter, in gleichguͤltigem Nichtachten alles uͤbrigen, zur oͤkonomiſch- epikuriſchen Gartenphiloſophie noch am bequemſten. Indolentia iſt eigentlich das hoͤchſte Gut — des Phlegma wie des Epikurs. Wir wuͤrden, wenn die Temperatur des menſchlichen Koͤrpers wie die Luft beſtimmt wuͤr- de — alſo bloß das Wefentliche, die Summe des Temperaments, das, was uns ſeine Kennt- niß eigentlich brauchbarer machen wuͤrde, durch Grade der Reizbarkeit ausdruͤcken. Von

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/408>, abgerufen am 23.11.2024.