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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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V. Abschnitt. III. Fragment.
"er nicht an; gereizt ist er aber wüthig. Da er nicht besser seyn will, als er ist, haßt er alle Prä-
"tensionen seiner Nachbarn, die Vorzüge auskramen wollen, die sie nicht besitzen. Eifersüchtig auf
"seine Privatexistenz, achtet er wenig auf öffentliches Urtheil, und fällt in den Ruf der Singulari-
"tät. Seine Einbildungskraft ist Steinkohlenfeuer. Es giebt keinen Glanz und erleuchtet nicht
"eine ganze Gegend; es wärmt aber dauerhaft. Hartnäckigkeit im Erfinden und Stätigkeit in
"Grundsätzen Jahrhunderte durch haben dem brittischen Geist endlich seine Regierungs-Handlungs-
"Manufaktur-Schiffahrtsgesetze gebildet und erhalten. Ehrlich und worthaltend ist sein Charakter.
"Nie aus falschen Grundsätzen lüderlich, oder mit der Theorie des Lasters prahlend.



"Der Franzose ist der Sanguineus von allen Nationen. Leichtsinnig, gutherzig, prahlend,
"und wieder von der Prahlerey gutmüthiger Weise ablassend, bis ins höchste Alter munter, zum Ge-
"nusse des Lebens zu allen Zeiten geschickt, und daher der beste Gesellschafter. Er verzeiht sich viel;
"daher auch andern, wenn sie ihm nur zugeben, daß sie Fremde sind, und er ein Franzos ist. Sein
"Gang ist tanzend; seine Sprache ohne Accent, und sein Gehör unheilbar. Seine Einbildungskraft
"verfolgt die kleinern Verhältnisse der Dinge mit der Schnelligkeit einer Sekundenuhr; aber nie
"giebt sie laute, starke, langsame Schläge, die einer Nation etwas Neues ansagten. Witz ist sein
"Erbtheil.
Sein Gesicht ist offen, und verkündigt tausend angenehme, liebenswürdige Dinge beym
"ersten Anblick. Schweigen kann er nicht, es sey mit seinen Augen, seiner Zunge, oder seinen übri-
"gen Gesichtsmuskeln. Die Beredsamkeit seines Wesens ist oft betäubend -- allein seine Gutmü-
"thigkeit wirft den Mantel über alle seine Fehler. So sehr seine Gestalt sich vor andern Nationen
"ausmahlt, so schwer ist sie mit Worten anzugeben. Nirgends sind so wenig feste, tiefe Züge, und
"so viele Bewegung. Der Franzose ist ganz Miene; ganz Gebärde; daher trügt der erste Totalein-
"druck selten, und verkündigt ihn immer, wer er ist. Seine Jmagination nimmt keinen hohen Flug,
"und das Sublime in allen Künsten ist ihm ein Aergerniß; daher seine Abneigung gegen alles An-
"tike in Litteratur und Kunst; seine Taubheit gegen wahre Musik, und Blindheit gegen hohe
"Schönheit in der Mahlerey. Der letzte Zug ist, daß er über alles gerne staunt und nicht begreifen
"kann, wie es möglich sey, daß man anders ist, wie in Paris.

Das

V. Abſchnitt. III. Fragment.
„er nicht an; gereizt iſt er aber wuͤthig. Da er nicht beſſer ſeyn will, als er iſt, haßt er alle Praͤ-
„tenſionen ſeiner Nachbarn, die Vorzuͤge auskramen wollen, die ſie nicht beſitzen. Eiferſuͤchtig auf
„ſeine Privatexiſtenz, achtet er wenig auf oͤffentliches Urtheil, und faͤllt in den Ruf der Singulari-
„taͤt. Seine Einbildungskraft iſt Steinkohlenfeuer. Es giebt keinen Glanz und erleuchtet nicht
„eine ganze Gegend; es waͤrmt aber dauerhaft. Hartnaͤckigkeit im Erfinden und Staͤtigkeit in
„Grundſaͤtzen Jahrhunderte durch haben dem brittiſchen Geiſt endlich ſeine Regierungs-Handlungs-
„Manufaktur-Schiffahrtsgeſetze gebildet und erhalten. Ehrlich und worthaltend iſt ſein Charakter.
„Nie aus falſchen Grundſaͤtzen luͤderlich, oder mit der Theorie des Laſters prahlend.



„Der Franzoſe iſt der Sanguineus von allen Nationen. Leichtſinnig, gutherzig, prahlend,
„und wieder von der Prahlerey gutmuͤthiger Weiſe ablaſſend, bis ins hoͤchſte Alter munter, zum Ge-
„nuſſe des Lebens zu allen Zeiten geſchickt, und daher der beſte Geſellſchafter. Er verzeiht ſich viel;
„daher auch andern, wenn ſie ihm nur zugeben, daß ſie Fremde ſind, und er ein Franzos iſt. Sein
„Gang iſt tanzend; ſeine Sprache ohne Accent, und ſein Gehoͤr unheilbar. Seine Einbildungskraft
„verfolgt die kleinern Verhaͤltniſſe der Dinge mit der Schnelligkeit einer Sekundenuhr; aber nie
„giebt ſie laute, ſtarke, langſame Schlaͤge, die einer Nation etwas Neues anſagten. Witz iſt ſein
„Erbtheil.
Sein Geſicht iſt offen, und verkuͤndigt tauſend angenehme, liebenswuͤrdige Dinge beym
„erſten Anblick. Schweigen kann er nicht, es ſey mit ſeinen Augen, ſeiner Zunge, oder ſeinen uͤbri-
„gen Geſichtsmuskeln. Die Beredſamkeit ſeines Weſens iſt oft betaͤubend — allein ſeine Gutmuͤ-
„thigkeit wirft den Mantel uͤber alle ſeine Fehler. So ſehr ſeine Geſtalt ſich vor andern Nationen
„ausmahlt, ſo ſchwer iſt ſie mit Worten anzugeben. Nirgends ſind ſo wenig feſte, tiefe Zuͤge, und
„ſo viele Bewegung. Der Franzoſe iſt ganz Miene; ganz Gebaͤrde; daher truͤgt der erſte Totalein-
„druck ſelten, und verkuͤndigt ihn immer, wer er iſt. Seine Jmagination nimmt keinen hohen Flug,
„und das Sublime in allen Kuͤnſten iſt ihm ein Aergerniß; daher ſeine Abneigung gegen alles An-
„tike in Litteratur und Kunſt; ſeine Taubheit gegen wahre Muſik, und Blindheit gegen hohe
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[286/0326] V. Abſchnitt. III. Fragment. „er nicht an; gereizt iſt er aber wuͤthig. Da er nicht beſſer ſeyn will, als er iſt, haßt er alle Praͤ- „tenſionen ſeiner Nachbarn, die Vorzuͤge auskramen wollen, die ſie nicht beſitzen. Eiferſuͤchtig auf „ſeine Privatexiſtenz, achtet er wenig auf oͤffentliches Urtheil, und faͤllt in den Ruf der Singulari- „taͤt. Seine Einbildungskraft iſt Steinkohlenfeuer. Es giebt keinen Glanz und erleuchtet nicht „eine ganze Gegend; es waͤrmt aber dauerhaft. Hartnaͤckigkeit im Erfinden und Staͤtigkeit in „Grundſaͤtzen Jahrhunderte durch haben dem brittiſchen Geiſt endlich ſeine Regierungs-Handlungs- „Manufaktur-Schiffahrtsgeſetze gebildet und erhalten. Ehrlich und worthaltend iſt ſein Charakter. „Nie aus falſchen Grundſaͤtzen luͤderlich, oder mit der Theorie des Laſters prahlend. „Der Franzoſe iſt der Sanguineus von allen Nationen. Leichtſinnig, gutherzig, prahlend, „und wieder von der Prahlerey gutmuͤthiger Weiſe ablaſſend, bis ins hoͤchſte Alter munter, zum Ge- „nuſſe des Lebens zu allen Zeiten geſchickt, und daher der beſte Geſellſchafter. Er verzeiht ſich viel; „daher auch andern, wenn ſie ihm nur zugeben, daß ſie Fremde ſind, und er ein Franzos iſt. Sein „Gang iſt tanzend; ſeine Sprache ohne Accent, und ſein Gehoͤr unheilbar. Seine Einbildungskraft „verfolgt die kleinern Verhaͤltniſſe der Dinge mit der Schnelligkeit einer Sekundenuhr; aber nie „giebt ſie laute, ſtarke, langſame Schlaͤge, die einer Nation etwas Neues anſagten. Witz iſt ſein „Erbtheil. Sein Geſicht iſt offen, und verkuͤndigt tauſend angenehme, liebenswuͤrdige Dinge beym „erſten Anblick. Schweigen kann er nicht, es ſey mit ſeinen Augen, ſeiner Zunge, oder ſeinen uͤbri- „gen Geſichtsmuskeln. Die Beredſamkeit ſeines Weſens iſt oft betaͤubend — allein ſeine Gutmuͤ- „thigkeit wirft den Mantel uͤber alle ſeine Fehler. So ſehr ſeine Geſtalt ſich vor andern Nationen „ausmahlt, ſo ſchwer iſt ſie mit Worten anzugeben. Nirgends ſind ſo wenig feſte, tiefe Zuͤge, und „ſo viele Bewegung. Der Franzoſe iſt ganz Miene; ganz Gebaͤrde; daher truͤgt der erſte Totalein- „druck ſelten, und verkuͤndigt ihn immer, wer er iſt. Seine Jmagination nimmt keinen hohen Flug, „und das Sublime in allen Kuͤnſten iſt ihm ein Aergerniß; daher ſeine Abneigung gegen alles An- „tike in Litteratur und Kunſt; ſeine Taubheit gegen wahre Muſik, und Blindheit gegen hohe „Schoͤnheit in der Mahlerey. Der letzte Zug iſt, daß er uͤber alles gerne ſtaunt und nicht begreifen „kann, wie es moͤglich ſey, daß man anders iſt, wie in Paris. Das

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/326>, abgerufen am 24.11.2024.