Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Aus der Handschrift eines Darmstädtischen Gelehrten. "stellige Menschen, ohne starke Leidenschaften. Wahrscheinlich, weil sie seit Jahrtausenden den Acker-"bau treiben, in Gesellschaft und Regierungsform leben, und das ergiebigste, fruchtbarste Land un- "ter einem schönen gemäßigten Himmelsstrich, ungefähr wie Frankreich, bewohnen. Durchgehends "aber ist bey der großen Stärke die leiseste Behendigkeit, Anstelligkeit und Geschicklichkeit des Kör- "pers bey allen diesen Völkern zu finden. Sie sind wie Quecksilber gegen Bley, wenn man sie mit "unserm gemeinen Manne vergleicht, und wie unsre Vorfahren sie als stüpid ansehen konnten, ist "schwerlich zu begreifen. "Bey den Türken gilt eben dasselbe, wie bey den Russen. Es ist ein Gemisch des edelsten "Der Engländer ist in seinem Gang gerade, und er steht meistens, als ob ein Stock von der er *) Man sehe N. 4. der folgenden Tafel, im V. Fragm. vermischte Nationalgesichter. Sechs männliche Profile. N n 3
Aus der Handſchrift eines Darmſtaͤdtiſchen Gelehrten. „ſtellige Menſchen, ohne ſtarke Leidenſchaften. Wahrſcheinlich, weil ſie ſeit Jahrtauſenden den Acker-„bau treiben, in Geſellſchaft und Regierungsform leben, und das ergiebigſte, fruchtbarſte Land un- „ter einem ſchoͤnen gemaͤßigten Himmelsſtrich, ungefaͤhr wie Frankreich, bewohnen. Durchgehends „aber iſt bey der großen Staͤrke die leiſeſte Behendigkeit, Anſtelligkeit und Geſchicklichkeit des Koͤr- „pers bey allen dieſen Voͤlkern zu finden. Sie ſind wie Queckſilber gegen Bley, wenn man ſie mit „unſerm gemeinen Manne vergleicht, und wie unſre Vorfahren ſie als ſtuͤpid anſehen konnten, iſt „ſchwerlich zu begreifen. „Bey den Tuͤrken gilt eben daſſelbe, wie bey den Ruſſen. Es iſt ein Gemiſch des edelſten „Der Englaͤnder iſt in ſeinem Gang gerade, und er ſteht meiſtens, als ob ein Stock von der er *) Man ſehe N. 4. der folgenden Tafel, im V. Fragm. vermiſchte Nationalgeſichter. Sechs maͤnnliche Profile. N n 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0325" n="285"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Aus der Handſchrift eines Darmſtaͤdtiſchen Gelehrten.</hi></fw><lb/> „ſtellige Menſchen, ohne ſtarke Leidenſchaften. Wahrſcheinlich, weil ſie ſeit Jahrtauſenden den Acker-<lb/> „bau treiben, in Geſellſchaft und Regierungsform leben, und das ergiebigſte, fruchtbarſte Land un-<lb/> „ter einem ſchoͤnen gemaͤßigten Himmelsſtrich, ungefaͤhr wie <hi rendition="#fr">Frankreich,</hi> bewohnen. Durchgehends<lb/> „aber iſt bey der großen Staͤrke die leiſeſte Behendigkeit, Anſtelligkeit und Geſchicklichkeit des Koͤr-<lb/> „pers bey allen dieſen Voͤlkern zu finden. Sie ſind wie Queckſilber gegen Bley, wenn man ſie mit<lb/> „unſerm gemeinen Manne vergleicht, und wie unſre Vorfahren ſie als ſtuͤpid anſehen konnten, iſt<lb/> „ſchwerlich zu begreifen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>„Bey den <hi rendition="#fr">Tuͤrken</hi> gilt eben daſſelbe, wie bey den <hi rendition="#fr">Ruſſen.</hi> Es iſt ein Gemiſch des edelſten<lb/> „Blutes von <hi rendition="#fr">Kleinaſien</hi> mit dem materiellen und groͤbern Theile der <hi rendition="#fr">tatariſchen</hi> Menſchenrace.<lb/> „Der <hi rendition="#fr">Natolier,</hi> eine geiſtige Natur, die ſich mit Beſchaulichkeit naͤhrt, Tagelang auf Einen Fleck<lb/> „ſehen, oder am Schachbret ſitzen, und ſich in den Mantel der Taziturnitaͤt wickeln kann. Das Auge<lb/> „von Begierde rein, voll Scharfſinn gutherziger Schlauigkeit, ohne was Großes zu beginnen. Der<lb/> „Mund beredt. Haupt- und Barthaar verkuͤndigen den geſchmeidigen Menſchen, ſo wie der ſchmale<lb/> „Hals. <note place="foot" n="*)">Man ſehe <hi rendition="#aq">N.</hi> 4. der folgenden Tafel, im <hi rendition="#aq">V.</hi> Fragm. vermiſchte Nationalgeſichter. Sechs maͤnnliche Profile.</note> Jn N. 5. iſt im Umriß des Kopfes, der Augen- und Backenknochen ſchon mehr Staͤr-<lb/> „ke und Sinnlichkeit. Der Schnitt des Auges, der Augenbraunen, der Naſe, des Ohres, des<lb/> „Mundes, alles ſtimmt zuſammen, Fleiſch, Geſundheit, und irrdiſches Weſen zu ſtempeln. Dieſer<lb/> „Kopf iſt meiſterlich und beynahe zu gut gezeichnet, um individuell zu ſeyn. Jch wuͤrde ihn Tatar<lb/> „oder Viehhirte nennen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>„Der <hi rendition="#fr">Englaͤnder</hi> iſt in ſeinem Gang gerade, und er ſteht meiſtens, als ob ein Stock von der<lb/> „Scheitel bis zur Sohle durchgeſtoßen waͤre. Seine Nerven ſind ſtark, und er iſt der beſte Laufer.<lb/> „Das Runde und Ungefaltete ſeiner Geſichtsmuskeln ſcheint mir ihn von allen zu unterſcheiden.<lb/> „Er verkuͤndigt ſelten, wenn er weder redet, noch ſich bewegt, den Geiſt und das Geſchicke, das er<lb/> „in ſo hohem Grade beſitzt. Sein Auge ſchweigt, und ſucht nicht zu gefallen. Wie ſein Haar und<lb/> „ſein Rock, ſo iſt ſein Charakter — ſchlicht in allem. Nicht ſchlau, aber auf ſeiner Hut, wird’s nur<lb/> „der Pinſel verſuchen wollen, ihn in irgend einer Sache zu betruͤgen. Wie ein braver Hund klaft<lb/> <fw place="bottom" type="sig">N n 3</fw><fw place="bottom" type="catch">er</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [285/0325]
Aus der Handſchrift eines Darmſtaͤdtiſchen Gelehrten.
„ſtellige Menſchen, ohne ſtarke Leidenſchaften. Wahrſcheinlich, weil ſie ſeit Jahrtauſenden den Acker-
„bau treiben, in Geſellſchaft und Regierungsform leben, und das ergiebigſte, fruchtbarſte Land un-
„ter einem ſchoͤnen gemaͤßigten Himmelsſtrich, ungefaͤhr wie Frankreich, bewohnen. Durchgehends
„aber iſt bey der großen Staͤrke die leiſeſte Behendigkeit, Anſtelligkeit und Geſchicklichkeit des Koͤr-
„pers bey allen dieſen Voͤlkern zu finden. Sie ſind wie Queckſilber gegen Bley, wenn man ſie mit
„unſerm gemeinen Manne vergleicht, und wie unſre Vorfahren ſie als ſtuͤpid anſehen konnten, iſt
„ſchwerlich zu begreifen.
„Bey den Tuͤrken gilt eben daſſelbe, wie bey den Ruſſen. Es iſt ein Gemiſch des edelſten
„Blutes von Kleinaſien mit dem materiellen und groͤbern Theile der tatariſchen Menſchenrace.
„Der Natolier, eine geiſtige Natur, die ſich mit Beſchaulichkeit naͤhrt, Tagelang auf Einen Fleck
„ſehen, oder am Schachbret ſitzen, und ſich in den Mantel der Taziturnitaͤt wickeln kann. Das Auge
„von Begierde rein, voll Scharfſinn gutherziger Schlauigkeit, ohne was Großes zu beginnen. Der
„Mund beredt. Haupt- und Barthaar verkuͤndigen den geſchmeidigen Menſchen, ſo wie der ſchmale
„Hals. *) Jn N. 5. iſt im Umriß des Kopfes, der Augen- und Backenknochen ſchon mehr Staͤr-
„ke und Sinnlichkeit. Der Schnitt des Auges, der Augenbraunen, der Naſe, des Ohres, des
„Mundes, alles ſtimmt zuſammen, Fleiſch, Geſundheit, und irrdiſches Weſen zu ſtempeln. Dieſer
„Kopf iſt meiſterlich und beynahe zu gut gezeichnet, um individuell zu ſeyn. Jch wuͤrde ihn Tatar
„oder Viehhirte nennen.
„Der Englaͤnder iſt in ſeinem Gang gerade, und er ſteht meiſtens, als ob ein Stock von der
„Scheitel bis zur Sohle durchgeſtoßen waͤre. Seine Nerven ſind ſtark, und er iſt der beſte Laufer.
„Das Runde und Ungefaltete ſeiner Geſichtsmuskeln ſcheint mir ihn von allen zu unterſcheiden.
„Er verkuͤndigt ſelten, wenn er weder redet, noch ſich bewegt, den Geiſt und das Geſchicke, das er
„in ſo hohem Grade beſitzt. Sein Auge ſchweigt, und ſucht nicht zu gefallen. Wie ſein Haar und
„ſein Rock, ſo iſt ſein Charakter — ſchlicht in allem. Nicht ſchlau, aber auf ſeiner Hut, wird’s nur
„der Pinſel verſuchen wollen, ihn in irgend einer Sache zu betruͤgen. Wie ein braver Hund klaft
er
*) Man ſehe N. 4. der folgenden Tafel, im V. Fragm. vermiſchte Nationalgeſichter. Sechs maͤnnliche Profile.
N n 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |