meinen Charakter der Nation, wodurch sie sich von andern französischen und deutschen Nationen un- terscheidet, leichter als ein einheimisches bemerken würde.
Jn jedem Canton der Schweiz finde ich die charakteristischten Verschiedenheiten. Der Zür- cher z. E. ist mittlerer Statur, eher mager, als fett, und größtentheils eines von beyden. Selten feurige Augen; selten große oder kleinfeine Nasen -- selten groß gezeichnet -- aber auch selten sehr kleinlich. Wir haben sehr wenig schöne Mannspersonen -- aber eine unvergleichliche Jugend -- die sich aber sehr bald deformirt. Der Berner ist hochstämmig, gerader, weißlich, weichlich und entschlossen. Man kennt ihn größtentheils aus der obern Reihe weißer, wohlgeordneter, leicht sicht- barer Zähne. Der Basler ist runderer, vollerer, gespannterer Gesichtsform; gelbweißlich, und hat gemeiniglich ungeschlossene, lockere Lippen. Der Schafhauser ist hartknochiger, hat selten tiefe, viel hervorstehende Augen -- und über den Schläfen divergirende Stirnseiten -- fette Backen, und fleischigen, weiten, offnern Mund; -- ist überhaupt stärker gegliedert, als der Zürcher. Es ist kaum ein Dorf nur im Canton Zürich, dessen Einwohner nicht von den Einwohnern des nächsten Dorfs, auch ohne Rücksicht auf Kleidung, wiewohl auch diese physiognomisch ist, äußerst verschieden sey.
Jn der Gegend um Wädenschweil und Oberried -- sieht man eine Menge schöner, breit- schulteriger, starker, lasttragender Männer -- Jn Weiningen, zwo Stunden von Zürich, gegen Abend, fand ich eine Menge guter Mannsgestalten, die sich besonders durch Reinlichkeit, Bedächt- lichkeit, bescheidene Langsamkeit oder Gravität auszeichnen.
Nur von dem physiognomischen Charakter unserer Dorfleute wär' ein äußerst interessantes und lehrreiches Buch zu schreiben. Es giebt beträchtliche Dorfschaften, wo die Gesichter, die Nase weggerechnet, beynah alle gleichsam wie mit einem Bret breitgedrückt scheinen, und wo diese un- schöne Form mit dem Charakter der Einwohner auffallend übereinstimmend ist. Was wäre lehr- reicher, als eine physiognomische und charakteristische Beschreibung solcher Dorfschaften, ihrer Le- bensart, Nahrung, Geschäffte?
Zweytes
V. Abſchnitt. I. Fragment. Eigne Bemerkungen.
meinen Charakter der Nation, wodurch ſie ſich von andern franzoͤſiſchen und deutſchen Nationen un- terſcheidet, leichter als ein einheimiſches bemerken wuͤrde.
Jn jedem Canton der Schweiz finde ich die charakteriſtiſchten Verſchiedenheiten. Der Zuͤr- cher z. E. iſt mittlerer Statur, eher mager, als fett, und groͤßtentheils eines von beyden. Selten feurige Augen; ſelten große oder kleinfeine Naſen — ſelten groß gezeichnet — aber auch ſelten ſehr kleinlich. Wir haben ſehr wenig ſchoͤne Mannsperſonen — aber eine unvergleichliche Jugend — die ſich aber ſehr bald deformirt. Der Berner iſt hochſtaͤmmig, gerader, weißlich, weichlich und entſchloſſen. Man kennt ihn groͤßtentheils aus der obern Reihe weißer, wohlgeordneter, leicht ſicht- barer Zaͤhne. Der Basler iſt runderer, vollerer, geſpannterer Geſichtsform; gelbweißlich, und hat gemeiniglich ungeſchloſſene, lockere Lippen. Der Schafhauſer iſt hartknochiger, hat ſelten tiefe, viel hervorſtehende Augen — und uͤber den Schlaͤfen divergirende Stirnſeiten — fette Backen, und fleiſchigen, weiten, offnern Mund; — iſt uͤberhaupt ſtaͤrker gegliedert, als der Zuͤrcher. Es iſt kaum ein Dorf nur im Canton Zuͤrich, deſſen Einwohner nicht von den Einwohnern des naͤchſten Dorfs, auch ohne Ruͤckſicht auf Kleidung, wiewohl auch dieſe phyſiognomiſch iſt, aͤußerſt verſchieden ſey.
Jn der Gegend um Waͤdenſchweil und Oberried — ſieht man eine Menge ſchoͤner, breit- ſchulteriger, ſtarker, laſttragender Maͤnner — Jn Weiningen, zwo Stunden von Zuͤrich, gegen Abend, fand ich eine Menge guter Mannsgeſtalten, die ſich beſonders durch Reinlichkeit, Bedaͤcht- lichkeit, beſcheidene Langſamkeit oder Gravitaͤt auszeichnen.
Nur von dem phyſiognomiſchen Charakter unſerer Dorfleute waͤr’ ein aͤußerſt intereſſantes und lehrreiches Buch zu ſchreiben. Es giebt betraͤchtliche Dorfſchaften, wo die Geſichter, die Naſe weggerechnet, beynah alle gleichſam wie mit einem Bret breitgedruͤckt ſcheinen, und wo dieſe un- ſchoͤne Form mit dem Charakter der Einwohner auffallend uͤbereinſtimmend iſt. Was waͤre lehr- reicher, als eine phyſiognomiſche und charakteriſtiſche Beſchreibung ſolcher Dorfſchaften, ihrer Le- bensart, Nahrung, Geſchaͤffte?
Zweytes
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V. Abſchnitt. I. Fragment. Eigne Bemerkungen.
meinen Charakter der Nation, wodurch ſie ſich von andern franzoͤſiſchen und deutſchen Nationen un-
terſcheidet, leichter als ein einheimiſches bemerken wuͤrde.
Jn jedem Canton der Schweiz finde ich die charakteriſtiſchten Verſchiedenheiten. Der Zuͤr-
cher z. E. iſt mittlerer Statur, eher mager, als fett, und groͤßtentheils eines von beyden. Selten
feurige Augen; ſelten große oder kleinfeine Naſen — ſelten groß gezeichnet — aber auch ſelten
ſehr kleinlich. Wir haben ſehr wenig ſchoͤne Mannsperſonen — aber eine unvergleichliche Jugend —
die ſich aber ſehr bald deformirt. Der Berner iſt hochſtaͤmmig, gerader, weißlich, weichlich und
entſchloſſen. Man kennt ihn groͤßtentheils aus der obern Reihe weißer, wohlgeordneter, leicht ſicht-
barer Zaͤhne. Der Basler iſt runderer, vollerer, geſpannterer Geſichtsform; gelbweißlich, und hat
gemeiniglich ungeſchloſſene, lockere Lippen. Der Schafhauſer iſt hartknochiger, hat ſelten tiefe,
viel hervorſtehende Augen — und uͤber den Schlaͤfen divergirende Stirnſeiten — fette Backen, und
fleiſchigen, weiten, offnern Mund; — iſt uͤberhaupt ſtaͤrker gegliedert, als der Zuͤrcher. Es iſt kaum
ein Dorf nur im Canton Zuͤrich, deſſen Einwohner nicht von den Einwohnern des naͤchſten Dorfs,
auch ohne Ruͤckſicht auf Kleidung, wiewohl auch dieſe phyſiognomiſch iſt, aͤußerſt verſchieden ſey.
Jn der Gegend um Waͤdenſchweil und Oberried — ſieht man eine Menge ſchoͤner, breit-
ſchulteriger, ſtarker, laſttragender Maͤnner — Jn Weiningen, zwo Stunden von Zuͤrich, gegen
Abend, fand ich eine Menge guter Mannsgeſtalten, die ſich beſonders durch Reinlichkeit, Bedaͤcht-
lichkeit, beſcheidene Langſamkeit oder Gravitaͤt auszeichnen.
Nur von dem phyſiognomiſchen Charakter unſerer Dorfleute waͤr’ ein aͤußerſt intereſſantes
und lehrreiches Buch zu ſchreiben. Es giebt betraͤchtliche Dorfſchaften, wo die Geſichter, die Naſe
weggerechnet, beynah alle gleichſam wie mit einem Bret breitgedruͤckt ſcheinen, und wo dieſe un-
ſchoͤne Form mit dem Charakter der Einwohner auffallend uͤbereinſtimmend iſt. Was waͤre lehr-
reicher, als eine phyſiognomiſche und charakteriſtiſche Beſchreibung ſolcher Dorfſchaften, ihrer Le-
bensart, Nahrung, Geſchaͤffte?
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/310>, abgerufen am 23.11.2024.
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