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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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IV. Abschnitt. I. Fragment.

15) Perpendikuläre Stirnen, die vorstehen, nicht unmittelbar auf der Nasenwurzel ru-
hen, schmal sind, faltig, kurz, glatt -- sind gewisser Ausdruck von schwachen Anlagen, wenigem
Verstand, weniger Einbildungskraft, weniger Empfindung.

16) Stirnen mit vielen eckigten, knotigten Protuberanzen zeigen immer viel lebendi-
ge, feste, harte, drückende, feurige, heftige Wirksamkeit und Starrsinn an.

17) Es ist immer ein Zeichen eines heitern, gesunden Verstandes und einer guten
Complexion, wenn das Profil einer Stirn zwey proportionirte Bogen hat, davon der untere
vorsteht.

[Spaltenumbruch]

18) Augen-
"heit nachtheilig seyn kann, wird deutlich in die Au-
"gen fallen.
Ja! freylich, lieber Winkelmann! an demselben
Gesichte! Aber umgekehrt kann ich auch mit eben der-
selben Zuverläßigkeit sagen -- "um sich zu überzeugen,
"wie unschicklich kurze Stirnen seyen, darf man nur
"an Personen, die eine lange Stirn haben, die oberste
"Höhe davon mit einem Finger bedecken, und sich die
"Stirn um so viel kürzer vorstellen, so wird der Uebel-
"klang der Proportion merklich werden." -- Nämlich
an demselben Gesichte -- dasselbe Gesicht wird immer
disproportionirt werden, wenigstens für geübte phy-
siognomische Augen, wenn man etwas zu seiner Länge
hinzu oder was davon thut. Das allein also beweist
weder die Schönheit der kurzen, noch die Häßlichkeit
der langen Stirnen. -- Ob ich gleich ganz von Herzen
zugebe, daß überhaupt die kurzen Stirnen vortheilhaf-
ter, kraftvoller und schöner sind, als die langen.
"Selbst die Circassierinnen wissen dieses; und um die
"Stirn noch niedriger zu machen, kämmen sie die ab-
"gestutzten Haare auf der Stirne von oben über diesel-
"be herunter, so daß sie fast bis an die Augenbraunen
"reichen?"
Jch hoffe doch nicht, daß der Schönheitsapostel
Winkelmann
dieses schön, und der Physiognomist
[Spaltenumbruch] Winkelmann
dieses verantwortlich finden werde? Mag
hier nicht sein Antiberninismus ein Paar Augenblicke
seine Vernunft und sein Gefühl abgerufen haben?
"Daß Horatius, wenn er insignem tenui fronte
"Lycorida
besinget, eine niedrige Stirn meynet, ha-
"ben die alten Ausleger desselben verstanden, wo es er-
"kläret wird, angusta et parva fronte, quod in pul-
"critudinis forma commendari solet.
Cruquius aber
"hat es nicht eingesehen; denn er sagt: Tenuis
"et rotunda frons index est libidinis et mobili-
"tatis simplicitatisque sine procaci petulantia do-
"lisque meretricis."
-- (Und Cruquius, thue ich hin-
zu, mit seiner Bestimmung urtheilt wahrlich hier we-
nigstens physiognomisch richtiger, als Winkelmann --
denn kurze Stirnen, wenn sie rund sind, sind weder
schön noch edel -- es sey denn, daß sie halbrund seyn.
"Franz Junius hat hier das Wort tenuis eben-
"falls nicht verstanden; denn er erklärt tenuem frontem
"durch apalon kai drosodes metopon des Bathyl-
"lus
beym Anakreon. Frons tenuis ist frons brevis
"beym Martialis, welche er an einem schönen Knaben
"verlangt. Es kann auch frons minima beym Pe-
"tronius,
in Beschreibung der Gestalt der Circe, mit
"dem französischen Uebersetzer nicht front petit gegeben
"werden; denn die Stirn kann breit seyn und zu gleicher
Zeit
IV. Abſchnitt. I. Fragment.

15) Perpendikulaͤre Stirnen, die vorſtehen, nicht unmittelbar auf der Naſenwurzel ru-
hen, ſchmal ſind, faltig, kurz, glatt — ſind gewiſſer Ausdruck von ſchwachen Anlagen, wenigem
Verſtand, weniger Einbildungskraft, weniger Empfindung.

16) Stirnen mit vielen eckigten, knotigten Protuberanzen zeigen immer viel lebendi-
ge, feſte, harte, druͤckende, feurige, heftige Wirkſamkeit und Starrſinn an.

17) Es iſt immer ein Zeichen eines heitern, geſunden Verſtandes und einer guten
Complexion, wenn das Profil einer Stirn zwey proportionirte Bogen hat, davon der untere
vorſteht.

[Spaltenumbruch]

18) Augen-
„heit nachtheilig ſeyn kann, wird deutlich in die Au-
„gen fallen.
Ja! freylich, lieber Winkelmann! an demſelben
Geſichte! Aber umgekehrt kann ich auch mit eben der-
ſelben Zuverlaͤßigkeit ſagen — „um ſich zu uͤberzeugen,
„wie unſchicklich kurze Stirnen ſeyen, darf man nur
„an Perſonen, die eine lange Stirn haben, die oberſte
„Hoͤhe davon mit einem Finger bedecken, und ſich die
„Stirn um ſo viel kuͤrzer vorſtellen, ſo wird der Uebel-
„klang der Proportion merklich werden.“ — Naͤmlich
an demſelben Geſichte — daſſelbe Geſicht wird immer
disproportionirt werden, wenigſtens fuͤr geuͤbte phy-
ſiognomiſche Augen, wenn man etwas zu ſeiner Laͤnge
hinzu oder was davon thut. Das allein alſo beweiſt
weder die Schoͤnheit der kurzen, noch die Haͤßlichkeit
der langen Stirnen. — Ob ich gleich ganz von Herzen
zugebe, daß uͤberhaupt die kurzen Stirnen vortheilhaf-
ter, kraftvoller und ſchoͤner ſind, als die langen.
„Selbſt die Circaſſierinnen wiſſen dieſes; und um die
„Stirn noch niedriger zu machen, kaͤmmen ſie die ab-
„geſtutzten Haare auf der Stirne von oben uͤber dieſel-
„be herunter, ſo daß ſie faſt bis an die Augenbraunen
„reichen?“
Jch hoffe doch nicht, daß der Schoͤnheitsapoſtel
Winkelmann
dieſes ſchoͤn, und der Phyſiognomiſt
[Spaltenumbruch] Winkelmann
dieſes verantwortlich finden werde? Mag
hier nicht ſein Antiberninismus ein Paar Augenblicke
ſeine Vernunft und ſein Gefuͤhl abgerufen haben?
„Daß Horatius, wenn er inſignem tenui fronte
„Lycorida
beſinget, eine niedrige Stirn meynet, ha-
„ben die alten Ausleger deſſelben verſtanden, wo es er-
„klaͤret wird, anguſta et parva fronte, quod in pul-
„critudinis forma commendari ſolet.
Cruquius aber
„hat es nicht eingeſehen; denn er ſagt: Tenuis
„et rotunda frons index eſt libidinis et mobili-
„tatis ſimplicitatisque ſine procaci petulantia do-
„lisque meretricis.“
— (Und Cruquius, thue ich hin-
zu, mit ſeiner Beſtimmung urtheilt wahrlich hier we-
nigſtens phyſiognomiſch richtiger, als Winkelmann —
denn kurze Stirnen, wenn ſie rund ſind, ſind weder
ſchoͤn noch edel — es ſey denn, daß ſie halbrund ſeyn.
Franz Junius hat hier das Wort tenuis eben-
„falls nicht verſtanden; denn er erklaͤrt tenuem frontem
„durch ἀπαλὸν ϰαι δροσῶδες μέτωπον des Bathyl-
„lus
beym Anakreon. Frons tenuis iſt frons brevis
„beym Martialis, welche er an einem ſchoͤnen Knaben
„verlangt. Es kann auch frons minima beym Pe-
„tronius,
in Beſchreibung der Geſtalt der Circe, mit
„dem franzoͤſiſchen Ueberſetzer nicht front petit gegeben
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[232/0262] IV. Abſchnitt. I. Fragment. 15) Perpendikulaͤre Stirnen, die vorſtehen, nicht unmittelbar auf der Naſenwurzel ru- hen, ſchmal ſind, faltig, kurz, glatt — ſind gewiſſer Ausdruck von ſchwachen Anlagen, wenigem Verſtand, weniger Einbildungskraft, weniger Empfindung. 16) Stirnen mit vielen eckigten, knotigten Protuberanzen zeigen immer viel lebendi- ge, feſte, harte, druͤckende, feurige, heftige Wirkſamkeit und Starrſinn an. 17) Es iſt immer ein Zeichen eines heitern, geſunden Verſtandes und einer guten Complexion, wenn das Profil einer Stirn zwey proportionirte Bogen hat, davon der untere vorſteht. 18) Augen- *) *) „heit nachtheilig ſeyn kann, wird deutlich in die Au- „gen fallen. Ja! freylich, lieber Winkelmann! an demſelben Geſichte! Aber umgekehrt kann ich auch mit eben der- ſelben Zuverlaͤßigkeit ſagen — „um ſich zu uͤberzeugen, „wie unſchicklich kurze Stirnen ſeyen, darf man nur „an Perſonen, die eine lange Stirn haben, die oberſte „Hoͤhe davon mit einem Finger bedecken, und ſich die „Stirn um ſo viel kuͤrzer vorſtellen, ſo wird der Uebel- „klang der Proportion merklich werden.“ — Naͤmlich an demſelben Geſichte — daſſelbe Geſicht wird immer disproportionirt werden, wenigſtens fuͤr geuͤbte phy- ſiognomiſche Augen, wenn man etwas zu ſeiner Laͤnge hinzu oder was davon thut. Das allein alſo beweiſt weder die Schoͤnheit der kurzen, noch die Haͤßlichkeit der langen Stirnen. — Ob ich gleich ganz von Herzen zugebe, daß uͤberhaupt die kurzen Stirnen vortheilhaf- ter, kraftvoller und ſchoͤner ſind, als die langen. „Selbſt die Circaſſierinnen wiſſen dieſes; und um die „Stirn noch niedriger zu machen, kaͤmmen ſie die ab- „geſtutzten Haare auf der Stirne von oben uͤber dieſel- „be herunter, ſo daß ſie faſt bis an die Augenbraunen „reichen?“ Jch hoffe doch nicht, daß der Schoͤnheitsapoſtel Winkelmann dieſes ſchoͤn, und der Phyſiognomiſt Winkelmann dieſes verantwortlich finden werde? Mag hier nicht ſein Antiberninismus ein Paar Augenblicke ſeine Vernunft und ſein Gefuͤhl abgerufen haben? „Daß Horatius, wenn er inſignem tenui fronte „Lycorida beſinget, eine niedrige Stirn meynet, ha- „ben die alten Ausleger deſſelben verſtanden, wo es er- „klaͤret wird, anguſta et parva fronte, quod in pul- „critudinis forma commendari ſolet. Cruquius aber „hat es nicht eingeſehen; denn er ſagt: Tenuis „et rotunda frons index eſt libidinis et mobili- „tatis ſimplicitatisque ſine procaci petulantia do- „lisque meretricis.“ — (Und Cruquius, thue ich hin- zu, mit ſeiner Beſtimmung urtheilt wahrlich hier we- nigſtens phyſiognomiſch richtiger, als Winkelmann — denn kurze Stirnen, wenn ſie rund ſind, ſind weder ſchoͤn noch edel — es ſey denn, daß ſie halbrund ſeyn. „Franz Junius hat hier das Wort tenuis eben- „falls nicht verſtanden; denn er erklaͤrt tenuem frontem „durch ἀπαλὸν ϰαι δροσῶδες μέτωπον des Bathyl- „lus beym Anakreon. Frons tenuis iſt frons brevis „beym Martialis, welche er an einem ſchoͤnen Knaben „verlangt. Es kann auch frons minima beym Pe- „tronius, in Beſchreibung der Geſtalt der Circe, mit „dem franzoͤſiſchen Ueberſetzer nicht front petit gegeben „werden; denn die Stirn kann breit ſeyn und zu gleicher Zeit

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/262>, abgerufen am 22.11.2024.