Spiritus exeunt, quasi suppetias instrumentis laturi. Producunt enim sese musculi ad ictum infe- rendum in fortibus, ut in Achille; in imbellibus et Ciceroni similibus ad linguae arma.Skaliger.
16.
Alle die Muskeln, welche die Leidenschaften beym Menschen ausdrücken, sind sehr lang und beweglich, können frey nach allen Seiten bewegt werden, und sind solchergestalt mit Fett umgeben, daß sie tausenderley Gestalten annehmen können. Murray.
17.
Das Porträt ist das Jdeal eines gewissen Menschen; nicht das Jdeal eines Menschen überhaupt. Leßing.
Ein vollkommenes Porträt, meines Bedünkens, ist nichts mehr und nichts weniger als eine runde Menschengestalt, so auf eine Fläche gebracht, wie sie in einer dem Menschen natürlichsten Si- tuation bey hellem Lichte von außen in der Camera obskura erscheint.
18.
Woher kömmt's, fragte ich einen Freund, daß die rüsirten und feinen Köpfe ein oder beyde Augen halb geschlossen haben? Er antwortete: Aus Ohnmacht. Haben Sie je einen starken Menschen zugleich fein gesehen? Mißtrauen gegen andre ist Kleinmuth an uns selbst.
19.
Derselbe Mann -- in seinen Urtheilen über Geist und Geistesprodukte mir der Eine aus zehntausend Urtheilern über Geist und Geistesprodukte -- -- schrieb mir einmal ein Paar kostbare Briefe über Physiognomik. Er erlaube mir, einige Stellen daraus herzusetzen.
Eines von den ewigen Gesetzen scheint mir dieses zu seyn, daß der erste Eindruck (Licht und Stand- punkt gehörig vorausgesetzt!) nur der einzige wahre sey. Hiezu brauche ich nichts weiter zu setzen, als: Jch glaube es, uud berufe mich auf den Glauben anderer. Soll aber darüber sehr schön räsonnirt werden, so glaube ich, giebt es dazu sehr viele Aus- und Einfahrten -- als man nur immer will. Mir ist die Sache des- wegen begreiflich, weil der erste Eindruck der einzige ist, und alle andere Reproduktionen und Modificationen des ersten. Der neue Mensch, der mir erscheint, (und mich affizirt) ist mir empfindlichem Wesen eben das, was einem Blindgebornen das Bild der Sonne seyn mag. Das erstemal hat er sie nur gesehen, und
beym
III. Abſchnitt. VII. Fragment.
15.
Spiritus exeunt, quaſi ſuppetias inſtrumentis laturi. Producunt enim ſeſe muſculi ad ictum infe- rendum in fortibus, ut in Achille; in imbellibus et Ciceroni ſimilibus ad linguae arma.Skaliger.
16.
Alle die Muskeln, welche die Leidenſchaften beym Menſchen ausdruͤcken, ſind ſehr lang und beweglich, koͤnnen frey nach allen Seiten bewegt werden, und ſind ſolchergeſtalt mit Fett umgeben, daß ſie tauſenderley Geſtalten annehmen koͤnnen. Murray.
17.
Das Portraͤt iſt das Jdeal eines gewiſſen Menſchen; nicht das Jdeal eines Menſchen uͤberhaupt. Leßing.
Ein vollkommenes Portraͤt, meines Beduͤnkens, iſt nichts mehr und nichts weniger als eine runde Menſchengeſtalt, ſo auf eine Flaͤche gebracht, wie ſie in einer dem Menſchen natuͤrlichſten Si- tuation bey hellem Lichte von außen in der Camera obſkura erſcheint.
18.
Woher koͤmmt’s, fragte ich einen Freund, daß die ruͤſirten und feinen Koͤpfe ein oder beyde Augen halb geſchloſſen haben? Er antwortete: Aus Ohnmacht. Haben Sie je einen ſtarken Menſchen zugleich fein geſehen? Mißtrauen gegen andre iſt Kleinmuth an uns ſelbſt.
19.
Derſelbe Mann — in ſeinen Urtheilen uͤber Geiſt und Geiſtesprodukte mir der Eine aus zehntauſend Urtheilern uͤber Geiſt und Geiſtesprodukte — — ſchrieb mir einmal ein Paar koſtbare Briefe uͤber Phyſiognomik. Er erlaube mir, einige Stellen daraus herzuſetzen.
Eines von den ewigen Geſetzen ſcheint mir dieſes zu ſeyn, daß der erſte Eindruck (Licht und Stand- punkt gehoͤrig vorausgeſetzt!) nur der einzige wahre ſey. Hiezu brauche ich nichts weiter zu ſetzen, als: Jch glaube es, uud berufe mich auf den Glauben anderer. Soll aber daruͤber ſehr ſchoͤn raͤſonnirt werden, ſo glaube ich, giebt es dazu ſehr viele Aus- und Einfahrten — als man nur immer will. Mir iſt die Sache des- wegen begreiflich, weil der erſte Eindruck der einzige iſt, und alle andere Reproduktionen und Modificationen des erſten. Der neue Menſch, der mir erſcheint, (und mich affizirt) iſt mir empfindlichem Weſen eben das, was einem Blindgebornen das Bild der Sonne ſeyn mag. Das erſtemal hat er ſie nur geſehen, und
beym
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0226"n="196"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">III.</hi> Abſchnitt. <hirendition="#aq">VII.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/><divn="4"><head>15.</head><lb/><p><hirendition="#aq">Spiritus exeunt, quaſi ſuppetias inſtrumentis laturi. Producunt enim ſeſe muſculi ad ictum infe-<lb/>
rendum in fortibus, ut in Achille; in imbellibus et Ciceroni ſimilibus ad linguae arma.</hi><hirendition="#fr">Skaliger.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>16.</head><lb/><p>Alle die Muskeln, welche die Leidenſchaften beym Menſchen ausdruͤcken, ſind ſehr lang und beweglich,<lb/>
koͤnnen frey nach allen Seiten bewegt werden, und ſind ſolchergeſtalt mit Fett umgeben, daß ſie tauſenderley<lb/>
Geſtalten annehmen koͤnnen. <hirendition="#fr">Murray.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>17.</head><lb/><p>Das Portraͤt iſt das Jdeal eines gewiſſen Menſchen; nicht das Jdeal eines Menſchen uͤberhaupt.<lb/>
Leßing.</p><lb/><p>Ein vollkommenes Portraͤt, meines Beduͤnkens, iſt nichts mehr und nichts weniger als eine<lb/>
runde Menſchengeſtalt, ſo auf eine Flaͤche gebracht, wie ſie in einer dem Menſchen natuͤrlichſten Si-<lb/>
tuation bey hellem Lichte von außen in der <hirendition="#fr">Camera obſkura</hi> erſcheint.</p></div><lb/><divn="4"><head>18.</head><lb/><p>Woher koͤmmt’s, fragte ich einen Freund, daß die ruͤſirten und feinen Koͤpfe ein oder beyde Augen<lb/>
halb geſchloſſen haben? Er antwortete: Aus Ohnmacht. Haben Sie je einen ſtarken Menſchen zugleich fein<lb/>
geſehen? Mißtrauen gegen andre iſt Kleinmuth an uns ſelbſt.</p></div><lb/><divn="4"><head>19.</head><lb/><p>Derſelbe Mann — in ſeinen Urtheilen uͤber Geiſt und Geiſtesprodukte mir der <hirendition="#fr">Eine</hi> aus<lb/>
zehntauſend Urtheilern uͤber Geiſt und Geiſtesprodukte ——ſchrieb mir einmal ein Paar koſtbare<lb/>
Briefe uͤber Phyſiognomik. Er erlaube mir, einige Stellen daraus herzuſetzen.</p><lb/><p>Eines von den ewigen Geſetzen ſcheint mir dieſes zu ſeyn, daß der erſte Eindruck (Licht und Stand-<lb/>
punkt gehoͤrig vorausgeſetzt!) nur der einzige wahre ſey. Hiezu brauche ich nichts weiter zu ſetzen, als:<lb/>
Jch glaube es, uud berufe mich auf den Glauben anderer. Soll aber daruͤber ſehr ſchoͤn raͤſonnirt werden, ſo<lb/>
glaube ich, giebt es dazu ſehr viele Aus- und Einfahrten — als man nur immer will. Mir iſt die Sache des-<lb/>
wegen begreiflich, weil der erſte Eindruck der einzige iſt, und alle andere Reproduktionen und Modificationen<lb/>
des erſten. Der neue Menſch, der mir erſcheint, (und mich affizirt) iſt mir empfindlichem Weſen eben<lb/>
das, was einem Blindgebornen das Bild der Sonne ſeyn mag. Das erſtemal hat er ſie nur geſehen, und<lb/><fwplace="bottom"type="catch">beym</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[196/0226]
III. Abſchnitt. VII. Fragment.
15.
Spiritus exeunt, quaſi ſuppetias inſtrumentis laturi. Producunt enim ſeſe muſculi ad ictum infe-
rendum in fortibus, ut in Achille; in imbellibus et Ciceroni ſimilibus ad linguae arma. Skaliger.
16.
Alle die Muskeln, welche die Leidenſchaften beym Menſchen ausdruͤcken, ſind ſehr lang und beweglich,
koͤnnen frey nach allen Seiten bewegt werden, und ſind ſolchergeſtalt mit Fett umgeben, daß ſie tauſenderley
Geſtalten annehmen koͤnnen. Murray.
17.
Das Portraͤt iſt das Jdeal eines gewiſſen Menſchen; nicht das Jdeal eines Menſchen uͤberhaupt.
Leßing.
Ein vollkommenes Portraͤt, meines Beduͤnkens, iſt nichts mehr und nichts weniger als eine
runde Menſchengeſtalt, ſo auf eine Flaͤche gebracht, wie ſie in einer dem Menſchen natuͤrlichſten Si-
tuation bey hellem Lichte von außen in der Camera obſkura erſcheint.
18.
Woher koͤmmt’s, fragte ich einen Freund, daß die ruͤſirten und feinen Koͤpfe ein oder beyde Augen
halb geſchloſſen haben? Er antwortete: Aus Ohnmacht. Haben Sie je einen ſtarken Menſchen zugleich fein
geſehen? Mißtrauen gegen andre iſt Kleinmuth an uns ſelbſt.
19.
Derſelbe Mann — in ſeinen Urtheilen uͤber Geiſt und Geiſtesprodukte mir der Eine aus
zehntauſend Urtheilern uͤber Geiſt und Geiſtesprodukte — — ſchrieb mir einmal ein Paar koſtbare
Briefe uͤber Phyſiognomik. Er erlaube mir, einige Stellen daraus herzuſetzen.
Eines von den ewigen Geſetzen ſcheint mir dieſes zu ſeyn, daß der erſte Eindruck (Licht und Stand-
punkt gehoͤrig vorausgeſetzt!) nur der einzige wahre ſey. Hiezu brauche ich nichts weiter zu ſetzen, als:
Jch glaube es, uud berufe mich auf den Glauben anderer. Soll aber daruͤber ſehr ſchoͤn raͤſonnirt werden, ſo
glaube ich, giebt es dazu ſehr viele Aus- und Einfahrten — als man nur immer will. Mir iſt die Sache des-
wegen begreiflich, weil der erſte Eindruck der einzige iſt, und alle andere Reproduktionen und Modificationen
des erſten. Der neue Menſch, der mir erſcheint, (und mich affizirt) iſt mir empfindlichem Weſen eben
das, was einem Blindgebornen das Bild der Sonne ſeyn mag. Das erſtemal hat er ſie nur geſehen, und
beym
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/226>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.