Jn jedem, dem kleinsten Umrisse des menschlichen Körpers -- wie vielmehr in allen zusam- men -- in dem unbeträchtlichsten Gliede, wie vielmehr in dem ganzen Gliederbau zusammen -- so alt nun immer und zerfallen das Gebäude itzt scheinen und seyn mag -- ist so viel Studium Got- tes, Genie Gottes -- Poesie Gottes -- daß mir oft meine zitternde Brust zu glühen scheint -- daß ich nicht Muße genug habe, ruhiger in diese Offenbarungen Gottes hineinzuschauen; nicht rein genug bin, keuscher davor zu zittern, inniger anzubeten -- und nicht einmal den Nachhall mei- nes Erstaunens -- zu offenbaren, Worte und Zeichen finden kann. O Unerforschlichster und Of- fenbarster! -- welche Decke liegt auf unsern Augen, daß wir das Allersichtbarste nicht sehen; nicht das Allerunsichtbarste im Allersichtbarsten! andre nicht in uns selbst! uns selbst nicht in andern! und in andern und uns nicht -- Gott!
2.
Stelle dir die Schönheit eines klaren Wassers vor, das über eine Wiese fließt, wie da schöne Blu- men unter dem Wasser bedeckt stehen; die aber doch durch das Wasser ins Gesichte leuchten. Eben so ist es mit der schönen Blüte der Seele beschaffen, die in einen schönen Körper gepflanzt ist. Sie schimmert durch denselben durch, und leuchtet hervor, und erscheint aus demselben. Die gute Bildung eines jungen Leibes ist nichts anders, als das Blühen einer nächstkünftigen Tugend, und gleichsam das Vorspiel von einer weit reifern Schönheit. Denn so wie vor dem vollen Aufgange der Sonne Stralen derselben an den Gipfeln der Berge er- scheinen, und den Augen einen angenehmen Anblick verschaffen, aus welchem man das bald nachkommende Völ- ligere erwartet; also blicket aus dem äußern Körper die künftige Zeitigkeit einer glänzenden Seele zum voraus hervor, und ist für Philosophen ein angenehmer Blick in Erwartung des nachfolgenden Guten.
Fünftes Fragment. Stellen aus Nikolai.
1.
Das Verschobne und Verkehrte in der Bildung kann sowohl von äußerlichen als von innern Ursachen herrüh- ren. Aber die Wohlgereimtheit entspringt bloß aus der Uebereinstimmung der innerlichen und äußerlichen wir- kenden Ursachen. Daher läßt sich das moralisch Gute mit weit mehr Sicherheit aus der Physiogno-
mie
Phys. Fragm.IVVersuch. A a
Stellen aus Maximus Tyrius.
Jn jedem, dem kleinſten Umriſſe des menſchlichen Koͤrpers — wie vielmehr in allen zuſam- men — in dem unbetraͤchtlichſten Gliede, wie vielmehr in dem ganzen Gliederbau zuſammen — ſo alt nun immer und zerfallen das Gebaͤude itzt ſcheinen und ſeyn mag — iſt ſo viel Studium Got- tes, Genie Gottes — Poeſie Gottes — daß mir oft meine zitternde Bruſt zu gluͤhen ſcheint — daß ich nicht Muße genug habe, ruhiger in dieſe Offenbarungen Gottes hineinzuſchauen; nicht rein genug bin, keuſcher davor zu zittern, inniger anzubeten — und nicht einmal den Nachhall mei- nes Erſtaunens — zu offenbaren, Worte und Zeichen finden kann. O Unerforſchlichſter und Of- fenbarſter! — welche Decke liegt auf unſern Augen, daß wir das Allerſichtbarſte nicht ſehen; nicht das Allerunſichtbarſte im Allerſichtbarſten! andre nicht in uns ſelbſt! uns ſelbſt nicht in andern! und in andern und uns nicht — Gott!
2.
Stelle dir die Schoͤnheit eines klaren Waſſers vor, das uͤber eine Wieſe fließt, wie da ſchoͤne Blu- men unter dem Waſſer bedeckt ſtehen; die aber doch durch das Waſſer ins Geſichte leuchten. Eben ſo iſt es mit der ſchoͤnen Bluͤte der Seele beſchaffen, die in einen ſchoͤnen Koͤrper gepflanzt iſt. Sie ſchimmert durch denſelben durch, und leuchtet hervor, und erſcheint aus demſelben. Die gute Bildung eines jungen Leibes iſt nichts anders, als das Bluͤhen einer naͤchſtkuͤnftigen Tugend, und gleichſam das Vorſpiel von einer weit reifern Schoͤnheit. Denn ſo wie vor dem vollen Aufgange der Sonne Stralen derſelben an den Gipfeln der Berge er- ſcheinen, und den Augen einen angenehmen Anblick verſchaffen, aus welchem man das bald nachkommende Voͤl- ligere erwartet; alſo blicket aus dem aͤußern Koͤrper die kuͤnftige Zeitigkeit einer glaͤnzenden Seele zum voraus hervor, und iſt fuͤr Philoſophen ein angenehmer Blick in Erwartung des nachfolgenden Guten.
Fuͤnftes Fragment. Stellen aus Nikolai.
1.
Das Verſchobne und Verkehrte in der Bildung kann ſowohl von aͤußerlichen als von innern Urſachen herruͤh- ren. Aber die Wohlgereimtheit entſpringt bloß aus der Uebereinſtimmung der innerlichen und aͤußerlichen wir- kenden Urſachen. Daher laͤßt ſich das moraliſch Gute mit weit mehr Sicherheit aus der Phyſiogno-
mie
Phyſ. Fragm.IVVerſuch. A a
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0215"n="185"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Stellen aus Maximus Tyrius.</hi></fw><lb/><p>Jn jedem, dem kleinſten Umriſſe des menſchlichen Koͤrpers — wie vielmehr in allen zuſam-<lb/>
men — in dem unbetraͤchtlichſten Gliede, wie vielmehr in dem ganzen Gliederbau zuſammen —ſo<lb/>
alt nun immer und zerfallen das Gebaͤude itzt ſcheinen und ſeyn mag — iſt ſo viel <hirendition="#fr">Studium</hi> Got-<lb/>
tes, <hirendition="#fr">Genie</hi> Gottes —<hirendition="#fr">Poeſie</hi> Gottes — daß mir oft meine zitternde Bruſt zu gluͤhen ſcheint —<lb/>
daß ich nicht Muße genug habe, ruhiger in dieſe <hirendition="#fr">Offenbarungen Gottes</hi> hineinzuſchauen; nicht<lb/>
rein genug bin, keuſcher davor zu zittern, inniger anzubeten — und nicht einmal den Nachhall mei-<lb/>
nes Erſtaunens — zu offenbaren, Worte und Zeichen finden kann. O Unerforſchlichſter und Of-<lb/>
fenbarſter! — welche Decke liegt auf unſern Augen, daß wir das Allerſichtbarſte nicht ſehen; nicht<lb/>
das Allerunſichtbarſte im Allerſichtbarſten! andre nicht in uns ſelbſt! uns ſelbſt nicht in andern! und<lb/>
in andern und uns nicht — Gott!</p></div><lb/><divn="4"><head>2.</head><lb/><p>Stelle dir die Schoͤnheit eines klaren Waſſers vor, das uͤber eine Wieſe fließt, wie da ſchoͤne Blu-<lb/>
men unter dem Waſſer bedeckt ſtehen; die aber doch durch das Waſſer ins Geſichte leuchten. Eben ſo iſt es<lb/>
mit der ſchoͤnen Bluͤte der Seele beſchaffen, die in einen ſchoͤnen Koͤrper gepflanzt iſt. Sie ſchimmert durch<lb/>
denſelben durch, und leuchtet hervor, und erſcheint aus demſelben. Die gute Bildung eines jungen Leibes iſt<lb/>
nichts anders, als das Bluͤhen einer naͤchſtkuͤnftigen Tugend, und gleichſam das Vorſpiel von einer weit reifern<lb/>
Schoͤnheit. Denn ſo wie vor dem vollen Aufgange der Sonne Stralen derſelben an den Gipfeln der Berge er-<lb/>ſcheinen, und den Augen einen angenehmen Anblick verſchaffen, aus welchem man das bald nachkommende Voͤl-<lb/>
ligere erwartet; alſo blicket aus dem aͤußern Koͤrper die kuͤnftige Zeitigkeit einer glaͤnzenden Seele zum voraus<lb/>
hervor, und iſt fuͤr Philoſophen ein angenehmer Blick in Erwartung des nachfolgenden Guten.</p></div></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Fuͤnftes Fragment.<lb/><hirendition="#g">Stellen aus Nikolai.</hi></hi></head><lb/><divn="4"><head>1.</head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>as Verſchobne und Verkehrte in der Bildung kann ſowohl von aͤußerlichen als von innern Urſachen herruͤh-<lb/>
ren. Aber die Wohlgereimtheit entſpringt bloß aus der Uebereinſtimmung der innerlichen und aͤußerlichen wir-<lb/>
kenden Urſachen. <hirendition="#fr">Daher laͤßt ſich das moraliſch Gute mit weit mehr Sicherheit aus der Phyſiogno-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Phyſ. Fragm.</hi><hirendition="#aq">IV</hi><hirendition="#fr">Verſuch.</hi> A a</fw><fwplace="bottom"type="catch">mie</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[185/0215]
Stellen aus Maximus Tyrius.
Jn jedem, dem kleinſten Umriſſe des menſchlichen Koͤrpers — wie vielmehr in allen zuſam-
men — in dem unbetraͤchtlichſten Gliede, wie vielmehr in dem ganzen Gliederbau zuſammen — ſo
alt nun immer und zerfallen das Gebaͤude itzt ſcheinen und ſeyn mag — iſt ſo viel Studium Got-
tes, Genie Gottes — Poeſie Gottes — daß mir oft meine zitternde Bruſt zu gluͤhen ſcheint —
daß ich nicht Muße genug habe, ruhiger in dieſe Offenbarungen Gottes hineinzuſchauen; nicht
rein genug bin, keuſcher davor zu zittern, inniger anzubeten — und nicht einmal den Nachhall mei-
nes Erſtaunens — zu offenbaren, Worte und Zeichen finden kann. O Unerforſchlichſter und Of-
fenbarſter! — welche Decke liegt auf unſern Augen, daß wir das Allerſichtbarſte nicht ſehen; nicht
das Allerunſichtbarſte im Allerſichtbarſten! andre nicht in uns ſelbſt! uns ſelbſt nicht in andern! und
in andern und uns nicht — Gott!
2.
Stelle dir die Schoͤnheit eines klaren Waſſers vor, das uͤber eine Wieſe fließt, wie da ſchoͤne Blu-
men unter dem Waſſer bedeckt ſtehen; die aber doch durch das Waſſer ins Geſichte leuchten. Eben ſo iſt es
mit der ſchoͤnen Bluͤte der Seele beſchaffen, die in einen ſchoͤnen Koͤrper gepflanzt iſt. Sie ſchimmert durch
denſelben durch, und leuchtet hervor, und erſcheint aus demſelben. Die gute Bildung eines jungen Leibes iſt
nichts anders, als das Bluͤhen einer naͤchſtkuͤnftigen Tugend, und gleichſam das Vorſpiel von einer weit reifern
Schoͤnheit. Denn ſo wie vor dem vollen Aufgange der Sonne Stralen derſelben an den Gipfeln der Berge er-
ſcheinen, und den Augen einen angenehmen Anblick verſchaffen, aus welchem man das bald nachkommende Voͤl-
ligere erwartet; alſo blicket aus dem aͤußern Koͤrper die kuͤnftige Zeitigkeit einer glaͤnzenden Seele zum voraus
hervor, und iſt fuͤr Philoſophen ein angenehmer Blick in Erwartung des nachfolgenden Guten.
Fuͤnftes Fragment.
Stellen aus Nikolai.
1.
Das Verſchobne und Verkehrte in der Bildung kann ſowohl von aͤußerlichen als von innern Urſachen herruͤh-
ren. Aber die Wohlgereimtheit entſpringt bloß aus der Uebereinſtimmung der innerlichen und aͤußerlichen wir-
kenden Urſachen. Daher laͤßt ſich das moraliſch Gute mit weit mehr Sicherheit aus der Phyſiogno-
mie
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. A a
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/215>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.