Gleichwohl ist sein Erzengel weniger schön, als einige Jünglinge, die ich gekannt habe. Jch scheue mich nicht zu sagen, daß beyder Urtheil aus Mangel der Achtsamkeit auf das, was in der Natur schönes ist, herrühre; ja, ich erdreiste mich zu behaupten, daß ich Bildungen des Gesichts gefunden, die eben so voll- kommen sind, als diejenigen, die unsern Künstlern Muster der hohen Schönheit seyn müssen.
9.
Seite 38. Die Wangen eines Jupiters und Neptuns sind weniger völlig, als an jugendlichen Gottheiten; und die Stirn pflegt sich dort gewölbter zu erheben -- (nämlich über den Augenbraunen) wodurch die sanfte Linie des Profils -- (bey der Nasenwurzel) mehr gesenkt und der Blick dadurch größer (lieber tie- fer) und denkender wird.
10.
Seite 43. Die große Aehnlichkeit des Aeskulaps mit seinem Großvater könnte die Bemerkung zum Grunde haben, daß vielmals der Sohn weniger dem Vater als dem Großvater ähnlich ist -- welchen Sprung der Natur in Bildung ihrer Geschöpfe die Erfahrung auch in Thieren, sonderlich in Pferden bewiesen hat. -- Jch habe bis dahin hierüber noch wenige bestimmte Beobachtungen gemacht.
11. Geschichte der Kunst.
Seite 110. Gezwungen ist das Gegentheil von der Natur; und gewaltsam von der Sittsamkeit und dem Wohlstande. -- Wo du Zwang bemerkst, da fürchte geheime tiefe, langsam tödtende Lei- denschaft; wo Gewaltsamkeit, offne, schnell tödtende.
12.
Wider die Unempfindlichkeit ist kein Mittel. -- Wer gewisser Physiognomien Unschuld, Güte, Reinheit, Truglosigkeit nicht auf den ersten Blick wenigstens zum Theil empfindet, dem suche sie ja nicht empfindbar zu machen. Die Mühe und Zeit ist verloren, und der andre wird dadurch ernie- drigt und gereizt zur Bitterkeit wider dich -- zur Verfolgung dessen, dessen Unschuld man empfind- bar machen wollte. Sprich mit Hörenden; und bringe das Licht den Sehenden!
13.
Michelange ist gegen den Raphael, was Thucydides gegen den Xenophon ist. -- Sein Ge- sicht gegen Raphaels verhält sich wie eines gewaltigen herrlichen Ochsen gegen das Gesicht eines ungewöhnlichen schönen und edeln Pferdes.
14. Durch
Y 3
Stellen aus Winkelmanns Schriften.
Gleichwohl iſt ſein Erzengel weniger ſchoͤn, als einige Juͤnglinge, die ich gekannt habe. Jch ſcheue mich nicht zu ſagen, daß beyder Urtheil aus Mangel der Achtſamkeit auf das, was in der Natur ſchoͤnes iſt, herruͤhre; ja, ich erdreiſte mich zu behaupten, daß ich Bildungen des Geſichts gefunden, die eben ſo voll- kommen ſind, als diejenigen, die unſern Kuͤnſtlern Muſter der hohen Schoͤnheit ſeyn muͤſſen.
9.
Seite 38. Die Wangen eines Jupiters und Neptuns ſind weniger voͤllig, als an jugendlichen Gottheiten; und die Stirn pflegt ſich dort gewoͤlbter zu erheben — (naͤmlich uͤber den Augenbraunen) wodurch die ſanfte Linie des Profils — (bey der Naſenwurzel) mehr geſenkt und der Blick dadurch groͤßer (lieber tie- fer) und denkender wird.
10.
Seite 43. Die große Aehnlichkeit des Aeskulaps mit ſeinem Großvater koͤnnte die Bemerkung zum Grunde haben, daß vielmals der Sohn weniger dem Vater als dem Großvater aͤhnlich iſt — welchen Sprung der Natur in Bildung ihrer Geſchoͤpfe die Erfahrung auch in Thieren, ſonderlich in Pferden bewieſen hat. — Jch habe bis dahin hieruͤber noch wenige beſtimmte Beobachtungen gemacht.
11. Geſchichte der Kunſt.
Seite 110. Gezwungen iſt das Gegentheil von der Natur; und gewaltſam von der Sittſamkeit und dem Wohlſtande. — Wo du Zwang bemerkſt, da fuͤrchte geheime tiefe, langſam toͤdtende Lei- denſchaft; wo Gewaltſamkeit, offne, ſchnell toͤdtende.
12.
Wider die Unempfindlichkeit iſt kein Mittel. — Wer gewiſſer Phyſiognomien Unſchuld, Guͤte, Reinheit, Trugloſigkeit nicht auf den erſten Blick wenigſtens zum Theil empfindet, dem ſuche ſie ja nicht empfindbar zu machen. Die Muͤhe und Zeit iſt verloren, und der andre wird dadurch ernie- drigt und gereizt zur Bitterkeit wider dich — zur Verfolgung deſſen, deſſen Unſchuld man empfind- bar machen wollte. Sprich mit Hoͤrenden; und bringe das Licht den Sehenden!
13.
Michelange iſt gegen den Raphael, was Thucydides gegen den Xenophon iſt. — Sein Ge- ſicht gegen Raphaels verhaͤlt ſich wie eines gewaltigen herrlichen Ochſen gegen das Geſicht eines ungewoͤhnlichen ſchoͤnen und edeln Pferdes.
14. Durch
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Stellen aus Winkelmanns Schriften.
Gleichwohl iſt ſein Erzengel weniger ſchoͤn, als einige Juͤnglinge, die ich gekannt habe. Jch ſcheue
mich nicht zu ſagen, daß beyder Urtheil aus Mangel der Achtſamkeit auf das, was in der Natur ſchoͤnes
iſt, herruͤhre; ja, ich erdreiſte mich zu behaupten, daß ich Bildungen des Geſichts gefunden, die eben ſo voll-
kommen ſind, als diejenigen, die unſern Kuͤnſtlern Muſter der hohen Schoͤnheit ſeyn muͤſſen.
9.
Seite 38. Die Wangen eines Jupiters und Neptuns ſind weniger voͤllig, als an jugendlichen
Gottheiten; und die Stirn pflegt ſich dort gewoͤlbter zu erheben — (naͤmlich uͤber den Augenbraunen) wodurch
die ſanfte Linie des Profils — (bey der Naſenwurzel) mehr geſenkt und der Blick dadurch groͤßer (lieber tie-
fer) und denkender wird.
10.
Seite 43. Die große Aehnlichkeit des Aeskulaps mit ſeinem Großvater koͤnnte die Bemerkung zum
Grunde haben, daß vielmals der Sohn weniger dem Vater als dem Großvater aͤhnlich iſt — welchen Sprung
der Natur in Bildung ihrer Geſchoͤpfe die Erfahrung auch in Thieren, ſonderlich in Pferden bewieſen hat. —
Jch habe bis dahin hieruͤber noch wenige beſtimmte Beobachtungen gemacht.
11.
Geſchichte der Kunſt.
Seite 110. Gezwungen iſt das Gegentheil von der Natur; und gewaltſam von der Sittſamkeit
und dem Wohlſtande. — Wo du Zwang bemerkſt, da fuͤrchte geheime tiefe, langſam toͤdtende Lei-
denſchaft; wo Gewaltſamkeit, offne, ſchnell toͤdtende.
12.
Wider die Unempfindlichkeit iſt kein Mittel. — Wer gewiſſer Phyſiognomien Unſchuld, Guͤte,
Reinheit, Trugloſigkeit nicht auf den erſten Blick wenigſtens zum Theil empfindet, dem ſuche ſie ja
nicht empfindbar zu machen. Die Muͤhe und Zeit iſt verloren, und der andre wird dadurch ernie-
drigt und gereizt zur Bitterkeit wider dich — zur Verfolgung deſſen, deſſen Unſchuld man empfind-
bar machen wollte. Sprich mit Hoͤrenden; und bringe das Licht den Sehenden!
13.
Michelange iſt gegen den Raphael, was Thucydides gegen den Xenophon iſt. — Sein Ge-
ſicht gegen Raphaels verhaͤlt ſich wie eines gewaltigen herrlichen Ochſen gegen das Geſicht eines
ungewoͤhnlichen ſchoͤnen und edeln Pferdes.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/203>, abgerufen am 23.02.2025.
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