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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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An physiognomische Schriftsteller.
schreiben zu wollen, oder Rücksicht auf diese zu nehmen. Je heller und näher das Licht der
Wahrheit ihren Augen kömmt, desto mehr toben sie -- wenn der, so das Licht hält, ihnen
nicht mit treffenderm Blicke in die Achse ihrer Augen hineinschaut: -- Schriftsteller! schreib
nichts, das dir widersprochen werden darf -- in Gegenwart eines ruhig unparteyischen
Zeugen. Was dir aber in dessen Gegenwart, selbst vom geschworensten Feinde der Wahr-
heit nicht widersprochen werden darf -- das schreibe; und wenn der tollgewordene Nichtwider-
sprecher sich sogleich wenden, und mit aller möglichen Schalkheit dawider schreiben wür-
de .... Jch setze daher meinen Namen zu meinen Schriften allen -- besonders zu der gegen-
wärtigen -- das heißt: "Jch bin Mann dafür. Das behaupte ich. Schande mir, wenn
"ich Unwahrheit, Unerfahrung schreibe." -- Für Räsonnements brauchts allenfalls nicht eben
schlechterdings des Namens. Diese haben ihre eigene von allen Namen, allem Ansehen unabhän-
gige Consistenz. Aber für Erfahrungen, Beobachtungen, Thatsachen -- gehört der Name.
Ein Schriftsteller, der Beobachtungen und Erfahrungen giebt, ist ein Zeuge. Ein Zeuge ohne
Namen -- gegen Fakta mit Namen, welch ein Zeuge -- ihr Herren Philosophen? -- wer will für
euch schreiben? -- Setzt gegen Beobachtungen -- Erfahrungen, Zeichnungen -- nicht Räsonne-
ments -- sondern Erfahrungen, Beobachtungen, Zeichnungen! das heißt -- seyd Zeugen gegen
Zeugen! Genannte gegen Genannte. Wer beschämen will, muß sich selbst schämen können: Wer
mein Auge will niederschlagen, mich erst ansehen dürfen -- wer das nicht darf -- achte des
Schaamlosen nicht, physiognomischer Schriftsteller! Aber achte und ehre den Widersprecher, der
das Licht nicht scheut, und sagt: Bruder! "So seh ich! Siehst du nicht auch so?" -- Nicht hor-
chend genug kannst du jeden Widerspruch des Redlichen, oder auch des Unredlichen, der gegen-
wärtig
ist, oder es seyn darf -- anhören. Sey er gegründet oder nur scheinbar! Er verdient
Achtung und Beantwortung -- und du wirst ihm antworten ... Suchst du nur immer Wahrheit
für dich, und Nutzen für andre -- deine Schrift wird nicht allein allen guten gefallen -- sie wird
bleiben! --

Und dann, Brüder, deckt zuerst und mehr das Gute auf, als das Böse.

Wer viel Gutes sehen gelernt hat, darf und kann, ohne böse zu werden, das Böse freylich
auch sehen.

Wer
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An phyſiognomiſche Schriftſteller.
ſchreiben zu wollen, oder Ruͤckſicht auf dieſe zu nehmen. Je heller und naͤher das Licht der
Wahrheit ihren Augen koͤmmt, deſto mehr toben ſie — wenn der, ſo das Licht haͤlt, ihnen
nicht mit treffenderm Blicke in die Achſe ihrer Augen hineinſchaut: — Schriftſteller! ſchreib
nichts, das dir widerſprochen werden darf — in Gegenwart eines ruhig unparteyiſchen
Zeugen. Was dir aber in deſſen Gegenwart, ſelbſt vom geſchworenſten Feinde der Wahr-
heit nicht widerſprochen werden darf — das ſchreibe; und wenn der tollgewordene Nichtwider-
ſprecher ſich ſogleich wenden, und mit aller moͤglichen Schalkheit dawider ſchreiben wuͤr-
de .... Jch ſetze daher meinen Namen zu meinen Schriften allen — beſonders zu der gegen-
waͤrtigen — das heißt: „Jch bin Mann dafuͤr. Das behaupte ich. Schande mir, wenn
„ich Unwahrheit, Unerfahrung ſchreibe.“ — Fuͤr Raͤſonnements brauchts allenfalls nicht eben
ſchlechterdings des Namens. Dieſe haben ihre eigene von allen Namen, allem Anſehen unabhaͤn-
gige Conſiſtenz. Aber fuͤr Erfahrungen, Beobachtungen, Thatſachen — gehoͤrt der Name.
Ein Schriftſteller, der Beobachtungen und Erfahrungen giebt, iſt ein Zeuge. Ein Zeuge ohne
Namen — gegen Fakta mit Namen, welch ein Zeuge — ihr Herren Philoſophen? — wer will fuͤr
euch ſchreiben? — Setzt gegen Beobachtungen — Erfahrungen, Zeichnungen — nicht Raͤſonne-
ments — ſondern Erfahrungen, Beobachtungen, Zeichnungen! das heißt — ſeyd Zeugen gegen
Zeugen! Genannte gegen Genannte. Wer beſchaͤmen will, muß ſich ſelbſt ſchaͤmen koͤnnen: Wer
mein Auge will niederſchlagen, mich erſt anſehen duͤrfen — wer das nicht darf — achte des
Schaamloſen nicht, phyſiognomiſcher Schriftſteller! Aber achte und ehre den Widerſprecher, der
das Licht nicht ſcheut, und ſagt: Bruder! „So ſeh ich! Siehſt du nicht auch ſo?“ — Nicht hor-
chend genug kannſt du jeden Widerſpruch des Redlichen, oder auch des Unredlichen, der gegen-
waͤrtig
iſt, oder es ſeyn darf — anhoͤren. Sey er gegruͤndet oder nur ſcheinbar! Er verdient
Achtung und Beantwortung — und du wirſt ihm antworten ... Suchſt du nur immer Wahrheit
fuͤr dich, und Nutzen fuͤr andre — deine Schrift wird nicht allein allen guten gefallen — ſie wird
bleiben! —

Und dann, Bruͤder, deckt zuerſt und mehr das Gute auf, als das Boͤſe.

Wer viel Gutes ſehen gelernt hat, darf und kann, ohne boͤſe zu werden, das Boͤſe freylich
auch ſehen.

Wer
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[165/0195] An phyſiognomiſche Schriftſteller. ſchreiben zu wollen, oder Ruͤckſicht auf dieſe zu nehmen. Je heller und naͤher das Licht der Wahrheit ihren Augen koͤmmt, deſto mehr toben ſie — wenn der, ſo das Licht haͤlt, ihnen nicht mit treffenderm Blicke in die Achſe ihrer Augen hineinſchaut: — Schriftſteller! ſchreib nichts, das dir widerſprochen werden darf — in Gegenwart eines ruhig unparteyiſchen Zeugen. Was dir aber in deſſen Gegenwart, ſelbſt vom geſchworenſten Feinde der Wahr- heit nicht widerſprochen werden darf — das ſchreibe; und wenn der tollgewordene Nichtwider- ſprecher ſich ſogleich wenden, und mit aller moͤglichen Schalkheit dawider ſchreiben wuͤr- de .... Jch ſetze daher meinen Namen zu meinen Schriften allen — beſonders zu der gegen- waͤrtigen — das heißt: „Jch bin Mann dafuͤr. Das behaupte ich. Schande mir, wenn „ich Unwahrheit, Unerfahrung ſchreibe.“ — Fuͤr Raͤſonnements brauchts allenfalls nicht eben ſchlechterdings des Namens. Dieſe haben ihre eigene von allen Namen, allem Anſehen unabhaͤn- gige Conſiſtenz. Aber fuͤr Erfahrungen, Beobachtungen, Thatſachen — gehoͤrt der Name. Ein Schriftſteller, der Beobachtungen und Erfahrungen giebt, iſt ein Zeuge. Ein Zeuge ohne Namen — gegen Fakta mit Namen, welch ein Zeuge — ihr Herren Philoſophen? — wer will fuͤr euch ſchreiben? — Setzt gegen Beobachtungen — Erfahrungen, Zeichnungen — nicht Raͤſonne- ments — ſondern Erfahrungen, Beobachtungen, Zeichnungen! das heißt — ſeyd Zeugen gegen Zeugen! Genannte gegen Genannte. Wer beſchaͤmen will, muß ſich ſelbſt ſchaͤmen koͤnnen: Wer mein Auge will niederſchlagen, mich erſt anſehen duͤrfen — wer das nicht darf — achte des Schaamloſen nicht, phyſiognomiſcher Schriftſteller! Aber achte und ehre den Widerſprecher, der das Licht nicht ſcheut, und ſagt: Bruder! „So ſeh ich! Siehſt du nicht auch ſo?“ — Nicht hor- chend genug kannſt du jeden Widerſpruch des Redlichen, oder auch des Unredlichen, der gegen- waͤrtig iſt, oder es ſeyn darf — anhoͤren. Sey er gegruͤndet oder nur ſcheinbar! Er verdient Achtung und Beantwortung — und du wirſt ihm antworten ... Suchſt du nur immer Wahrheit fuͤr dich, und Nutzen fuͤr andre — deine Schrift wird nicht allein allen guten gefallen — ſie wird bleiben! — Und dann, Bruͤder, deckt zuerſt und mehr das Gute auf, als das Boͤſe. Wer viel Gutes ſehen gelernt hat, darf und kann, ohne boͤſe zu werden, das Boͤſe freylich auch ſehen. Wer X 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/195>, abgerufen am 22.11.2024.