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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber das Studium der Physiognomik.
kelicht, stumpf oder spitzig -- Sodann ob die obere oder untere Seite dieses Winkels länger sey?
Dann den Mund -- der im Profile wieder nur drey Hauptformen haben kann; entweder geht die
Oberlippe über die Unterlippe -- oder sie läuft senkelrecht mit ihr, oder sie geht zurück. So mißt
und klassifizirt sich auch das Kinn. Jst's perpendikulär? vorgehend? zurückgehend? Und sein Un-
tertheil, sinkt er unter die Horizontallinie? läuft er horizontal oder aufwärts? Besonders bemerke
ich mir die durch das Fleisch entweder sichtbare oder unsichtbare Schweisung der Kinnlade, die oft
von der entscheidendsten Bedeutung ist. *) -- Das Auge messe ich allervörderst nach seiner Entfer-
nung
von der Nasenwurzel -- dann betrachte ich seine Größe, seine Farbe -- dann die Schwei-
fung
des obern und untern Augenliedes. So kann ich in wenigen Momenten ein Gesicht gleichsam
auswendig lernen. Dieß Auswendiglernen eines Gesichtes geschieht gerade so, wie das Auswen-
diglernen einer Stelle eines Gedichtes geschieht. Man überschaut, den Hauptpartheyen nach, das

Ganze.
*) [Spaltenumbruch] "Es ist für jeden, der nicht häufige Observationen
"gemacht, unbegreiflich, wie leicht und sicher und be-
"stimmt von diesem Knochen Merkmale von der innern
"Beschaffenheit des Menschen herzunehmen sind. Jch
"muß hier anmerken, und ich könnte die Anmerkung bey
"allen Knochen des menschlichen Körpers, auch nur in
"so ferne sie sich durch Haut und Fleisch befühlen las-
"sen, sicherlich wiederholen -- daß ein guter Physiog-
"nomist mit verbundenen Augen durch das bloße Beta-
"sten dieses einzigen Knochens mit der größten Zuver-
"läßigkeit vieles von dem Charakter eines sonst allen
"seinen Sinnen unwahrnehmlichen Menschen entschei-
"den könnte. Jch habe oft in dem ganzen Gesichte ei-
"nes Menschen, von dessen außerordentlichem Verstande
"ich sonst die entscheidendsten Proben hatte, das aus-
"zeichnende Mittel nirgends so leicht und so sicher fin-
"den können, als in diesem einzigen Knochen, im Profil
"betrachtet; und es ist insonderheit den Mahlern und
[Spaltenumbruch] "Zeichnern menschlicher Köpfe sehr anzurathen, daß sie
"ihre Profile so gegen das Licht stellen und so in Schat-
"ten setzen, daß die Zeichnung hievon eine auffallende
"Bestimmtheit und Genauigkeit bekomme. Jch habe un-
"zählige Porträte gesehen, wo dieß (ich wollte auch als-
"dann, wenn mir das Original unbekannt ist, gut da-
"für stehen) auf eine das Auge des Beobachters belei-
"digende Weise vernachläßigt ist. Junge Mahler, die
"ihr Lust und Kunst besitzet, das Schönste, was Gott
"erschaffen hat, das menschliche Gesicht nachzuzeich-
"nen -- und für Aeltern, Kinder, Geschwister, und
"Freunde einen Theil einer geliebten menschlichen Ge-
"stalt zu verewigen -- nehmet von mir Unkünstler eine
"Beobachtung an, deren Benutzung der Menschheit und
"ihrem Urheber Ehre machen kann. Zerstöret und ver-
"derbet das Werk Gottes nicht durch Trägheit, Unacht-
"samkeit und Unwissenheit." Aus der bereits gedruck-
ten Vorlesung über die Physiognomik.
Phys. Fragm. IV Versuch. T

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
kelicht, ſtumpf oder ſpitzig — Sodann ob die obere oder untere Seite dieſes Winkels laͤnger ſey?
Dann den Mund — der im Profile wieder nur drey Hauptformen haben kann; entweder geht die
Oberlippe uͤber die Unterlippe — oder ſie laͤuft ſenkelrecht mit ihr, oder ſie geht zuruͤck. So mißt
und klaſſifizirt ſich auch das Kinn. Jſt’s perpendikulaͤr? vorgehend? zuruͤckgehend? Und ſein Un-
tertheil, ſinkt er unter die Horizontallinie? laͤuft er horizontal oder aufwaͤrts? Beſonders bemerke
ich mir die durch das Fleiſch entweder ſichtbare oder unſichtbare Schweiſung der Kinnlade, die oft
von der entſcheidendſten Bedeutung iſt. *) — Das Auge meſſe ich allervoͤrderſt nach ſeiner Entfer-
nung
von der Naſenwurzel — dann betrachte ich ſeine Groͤße, ſeine Farbe — dann die Schwei-
fung
des obern und untern Augenliedes. So kann ich in wenigen Momenten ein Geſicht gleichſam
auswendig lernen. Dieß Auswendiglernen eines Geſichtes geſchieht gerade ſo, wie das Auswen-
diglernen einer Stelle eines Gedichtes geſchieht. Man uͤberſchaut, den Hauptpartheyen nach, das

Ganze.
*) [Spaltenumbruch] „Es iſt fuͤr jeden, der nicht haͤufige Obſervationen
„gemacht, unbegreiflich, wie leicht und ſicher und be-
„ſtimmt von dieſem Knochen Merkmale von der innern
„Beſchaffenheit des Menſchen herzunehmen ſind. Jch
„muß hier anmerken, und ich koͤnnte die Anmerkung bey
„allen Knochen des menſchlichen Koͤrpers, auch nur in
„ſo ferne ſie ſich durch Haut und Fleiſch befuͤhlen laſ-
„ſen, ſicherlich wiederholen — daß ein guter Phyſiog-
„nomiſt mit verbundenen Augen durch das bloße Beta-
„ſten dieſes einzigen Knochens mit der groͤßten Zuver-
„laͤßigkeit vieles von dem Charakter eines ſonſt allen
„ſeinen Sinnen unwahrnehmlichen Menſchen entſchei-
„den koͤnnte. Jch habe oft in dem ganzen Geſichte ei-
„nes Menſchen, von deſſen außerordentlichem Verſtande
„ich ſonſt die entſcheidendſten Proben hatte, das aus-
„zeichnende Mittel nirgends ſo leicht und ſo ſicher fin-
„den koͤnnen, als in dieſem einzigen Knochen, im Profil
„betrachtet; und es iſt inſonderheit den Mahlern und
[Spaltenumbruch] „Zeichnern menſchlicher Koͤpfe ſehr anzurathen, daß ſie
„ihre Profile ſo gegen das Licht ſtellen und ſo in Schat-
„ten ſetzen, daß die Zeichnung hievon eine auffallende
„Beſtimmtheit und Genauigkeit bekomme. Jch habe un-
„zaͤhlige Portraͤte geſehen, wo dieß (ich wollte auch als-
„dann, wenn mir das Original unbekannt iſt, gut da-
„fuͤr ſtehen) auf eine das Auge des Beobachters belei-
„digende Weiſe vernachlaͤßigt iſt. Junge Mahler, die
„ihr Luſt und Kunſt beſitzet, das Schoͤnſte, was Gott
„erſchaffen hat, das menſchliche Geſicht nachzuzeich-
„nen — und fuͤr Aeltern, Kinder, Geſchwiſter, und
„Freunde einen Theil einer geliebten menſchlichen Ge-
„ſtalt zu verewigen — nehmet von mir Unkuͤnſtler eine
„Beobachtung an, deren Benutzung der Menſchheit und
„ihrem Urheber Ehre machen kann. Zerſtoͤret und ver-
„derbet das Werk Gottes nicht durch Traͤgheit, Unacht-
„ſamkeit und Unwiſſenheit.“ Aus der bereits gedruck-
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Phyſ. Fragm. IV Verſuch. T
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[145/0175] Ueber das Studium der Phyſiognomik. kelicht, ſtumpf oder ſpitzig — Sodann ob die obere oder untere Seite dieſes Winkels laͤnger ſey? Dann den Mund — der im Profile wieder nur drey Hauptformen haben kann; entweder geht die Oberlippe uͤber die Unterlippe — oder ſie laͤuft ſenkelrecht mit ihr, oder ſie geht zuruͤck. So mißt und klaſſifizirt ſich auch das Kinn. Jſt’s perpendikulaͤr? vorgehend? zuruͤckgehend? Und ſein Un- tertheil, ſinkt er unter die Horizontallinie? laͤuft er horizontal oder aufwaͤrts? Beſonders bemerke ich mir die durch das Fleiſch entweder ſichtbare oder unſichtbare Schweiſung der Kinnlade, die oft von der entſcheidendſten Bedeutung iſt. *) — Das Auge meſſe ich allervoͤrderſt nach ſeiner Entfer- nung von der Naſenwurzel — dann betrachte ich ſeine Groͤße, ſeine Farbe — dann die Schwei- fung des obern und untern Augenliedes. So kann ich in wenigen Momenten ein Geſicht gleichſam auswendig lernen. Dieß Auswendiglernen eines Geſichtes geſchieht gerade ſo, wie das Auswen- diglernen einer Stelle eines Gedichtes geſchieht. Man uͤberſchaut, den Hauptpartheyen nach, das Ganze. *) „Es iſt fuͤr jeden, der nicht haͤufige Obſervationen „gemacht, unbegreiflich, wie leicht und ſicher und be- „ſtimmt von dieſem Knochen Merkmale von der innern „Beſchaffenheit des Menſchen herzunehmen ſind. Jch „muß hier anmerken, und ich koͤnnte die Anmerkung bey „allen Knochen des menſchlichen Koͤrpers, auch nur in „ſo ferne ſie ſich durch Haut und Fleiſch befuͤhlen laſ- „ſen, ſicherlich wiederholen — daß ein guter Phyſiog- „nomiſt mit verbundenen Augen durch das bloße Beta- „ſten dieſes einzigen Knochens mit der groͤßten Zuver- „laͤßigkeit vieles von dem Charakter eines ſonſt allen „ſeinen Sinnen unwahrnehmlichen Menſchen entſchei- „den koͤnnte. Jch habe oft in dem ganzen Geſichte ei- „nes Menſchen, von deſſen außerordentlichem Verſtande „ich ſonſt die entſcheidendſten Proben hatte, das aus- „zeichnende Mittel nirgends ſo leicht und ſo ſicher fin- „den koͤnnen, als in dieſem einzigen Knochen, im Profil „betrachtet; und es iſt inſonderheit den Mahlern und „Zeichnern menſchlicher Koͤpfe ſehr anzurathen, daß ſie „ihre Profile ſo gegen das Licht ſtellen und ſo in Schat- „ten ſetzen, daß die Zeichnung hievon eine auffallende „Beſtimmtheit und Genauigkeit bekomme. Jch habe un- „zaͤhlige Portraͤte geſehen, wo dieß (ich wollte auch als- „dann, wenn mir das Original unbekannt iſt, gut da- „fuͤr ſtehen) auf eine das Auge des Beobachters belei- „digende Weiſe vernachlaͤßigt iſt. Junge Mahler, die „ihr Luſt und Kunſt beſitzet, das Schoͤnſte, was Gott „erſchaffen hat, das menſchliche Geſicht nachzuzeich- „nen — und fuͤr Aeltern, Kinder, Geſchwiſter, und „Freunde einen Theil einer geliebten menſchlichen Ge- „ſtalt zu verewigen — nehmet von mir Unkuͤnſtler eine „Beobachtung an, deren Benutzung der Menſchheit und „ihrem Urheber Ehre machen kann. Zerſtoͤret und ver- „derbet das Werk Gottes nicht durch Traͤgheit, Unacht- „ſamkeit und Unwiſſenheit.“ Aus der bereits gedruck- ten Vorleſung uͤber die Phyſiognomik. Phyſ. Fragm. IV Verſuch. T

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/175>, abgerufen am 22.11.2024.