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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. V. Fragment.
misten, ohne Sinn und Weisheit, ohne Kenntniß und Logik -- ohne Geduld zu beobachten und zu
vergleichen -- ohne Liebe der Wahrheit und der Menschheit, die Witzler, die Absprecher, die Schnell-
entscheider -- die Ununtersucher! o die beruflosen Physiognomen! welch eine gefährliche Bande in
der menschlichen Gesellschaft! -- Jch sage Physiognomisten ohne Wahrheit und Vernunft -- ich
nehme es nicht zurück; ich wiederhole es aufs kräftigste. Physiognomischer Sinn ist vor allen Din-
gen schlechterdings unentbehrlich; ist das erste und wesentlichste von allem, ist das Auge der Na-
tur -- ohne welches alle Regeln und Anweisungen einem Menschen so unnütze sind, als einem Blin-
den eine Brille -- Aber! aber! ohne Weisheit, ohne vernünftige Prüfung, ohne Zergliederung,
ohne Vergleichung, Reihung, ohne Vernunft, ohne Regeln, ohne Uebung, ohne Zeichnung wird
das feinste physiognomische Genie wo nicht oft sehr irren, doch gewiß sehr irre machen. Wenigstens
werden seine Gefühle sich verwirren, und sich nicht mittheilen lassen. -- Ehe ich also für meine Per-
son einem Menschen das Studium der Physiognomik empfehlen oder erlauben würde, müßte ich voll-
kommen überzeugt seyn -- der Mann hat physiognomischen Sinn, hat Vernunft, und kann zeich-
nen; hat wenigstens Talent und einige Uebung des Zeichnens. Physiognomischen Sinn -- die
Charakteristik der Natur zu empfinden und zu lesen: Vernunft, seine Empfindungen in Beobachtun-
gen aufzulösen, durch allgemeine, abstrakte Zeichen auszudrücken, und Zeichnungsgabe, die Charak-
tere sinnlich darzustellen. Es ist unmöglich, daß ohne dieses ein Mensch es jemals in der Physiognomik
weit bringen werde. Heiß brennt mich oft die nicht ungegründete Besorgniß, daß unfähige Men-
schen die schwerste aller Kenntnisse, so ferne sie bestimmt und wissenschaftlich seyn soll, allzuleicht auf
sich nehmen, und die Physiognomik in den übelsten Ruf bringen werden. Jch will keinen Theil
dran haben, denn ich warne zehnmal statt einmal. Was ist nicht schon in allen drey vorhergehenden
Bänden dagegen gesagt worden? Es ist wahr -- nichts ist leichter, als die Physiognomik zur allgemei-
nen, täglichen Brauchbarkeit zu studieren -- wenn man Sinn, Vernunft und Zeichnungsgabe besitzt. O
mein lieber Graf! wenn Sie doch Leute sehen, die ohne das sich ins Heiligthum dieser Wissenschaft
hinein wagen wollen -- vereinigen Sie sich doch mit mir, sie davon abzuschrecken. Alle Menschen
haben ein gewisses Maaß physiognomischen Sinnes -- ich weiß es, und behaupte es mit lauter un-
übertäublicher Stimme; aber nicht jeder hat so viel Sinn, und zugleich so viel Vernunft, so viel Fä-
higkeit, seine Beobachtungen haarscharf zu bestimmen und auszudrücken, daß er berufen ist, aus der
Physiognomik ein besonderes Studium zu machen.

Jch

II. Abſchnitt. V. Fragment.
miſten, ohne Sinn und Weisheit, ohne Kenntniß und Logik — ohne Geduld zu beobachten und zu
vergleichen — ohne Liebe der Wahrheit und der Menſchheit, die Witzler, die Abſprecher, die Schnell-
entſcheider — die Ununterſucher! o die berufloſen Phyſiognomen! welch eine gefaͤhrliche Bande in
der menſchlichen Geſellſchaft! — Jch ſage Phyſiognomiſten ohne Wahrheit und Vernunft — ich
nehme es nicht zuruͤck; ich wiederhole es aufs kraͤftigſte. Phyſiognomiſcher Sinn iſt vor allen Din-
gen ſchlechterdings unentbehrlich; iſt das erſte und weſentlichſte von allem, iſt das Auge der Na-
tur — ohne welches alle Regeln und Anweiſungen einem Menſchen ſo unnuͤtze ſind, als einem Blin-
den eine Brille — Aber! aber! ohne Weisheit, ohne vernuͤnftige Pruͤfung, ohne Zergliederung,
ohne Vergleichung, Reihung, ohne Vernunft, ohne Regeln, ohne Uebung, ohne Zeichnung wird
das feinſte phyſiognomiſche Genie wo nicht oft ſehr irren, doch gewiß ſehr irre machen. Wenigſtens
werden ſeine Gefuͤhle ſich verwirren, und ſich nicht mittheilen laſſen. — Ehe ich alſo fuͤr meine Per-
ſon einem Menſchen das Studium der Phyſiognomik empfehlen oder erlauben wuͤrde, muͤßte ich voll-
kommen uͤberzeugt ſeyn — der Mann hat phyſiognomiſchen Sinn, hat Vernunft, und kann zeich-
nen; hat wenigſtens Talent und einige Uebung des Zeichnens. Phyſiognomiſchen Sinn — die
Charakteriſtik der Natur zu empfinden und zu leſen: Vernunft, ſeine Empfindungen in Beobachtun-
gen aufzuloͤſen, durch allgemeine, abſtrakte Zeichen auszudruͤcken, und Zeichnungsgabe, die Charak-
tere ſinnlich darzuſtellen. Es iſt unmoͤglich, daß ohne dieſes ein Menſch es jemals in der Phyſiognomik
weit bringen werde. Heiß brennt mich oft die nicht ungegruͤndete Beſorgniß, daß unfaͤhige Men-
ſchen die ſchwerſte aller Kenntniſſe, ſo ferne ſie beſtimmt und wiſſenſchaftlich ſeyn ſoll, allzuleicht auf
ſich nehmen, und die Phyſiognomik in den uͤbelſten Ruf bringen werden. Jch will keinen Theil
dran haben, denn ich warne zehnmal ſtatt einmal. Was iſt nicht ſchon in allen drey vorhergehenden
Baͤnden dagegen geſagt worden? Es iſt wahr — nichts iſt leichter, als die Phyſiognomik zur allgemei-
nen, taͤglichen Brauchbarkeit zu ſtudieren — wenn man Sinn, Vernunft und Zeichnungsgabe beſitzt. O
mein lieber Graf! wenn Sie doch Leute ſehen, die ohne das ſich ins Heiligthum dieſer Wiſſenſchaft
hinein wagen wollen — vereinigen Sie ſich doch mit mir, ſie davon abzuſchrecken. Alle Menſchen
haben ein gewiſſes Maaß phyſiognomiſchen Sinnes — ich weiß es, und behaupte es mit lauter un-
uͤbertaͤublicher Stimme; aber nicht jeder hat ſo viel Sinn, und zugleich ſo viel Vernunft, ſo viel Faͤ-
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[140/0170] II. Abſchnitt. V. Fragment. miſten, ohne Sinn und Weisheit, ohne Kenntniß und Logik — ohne Geduld zu beobachten und zu vergleichen — ohne Liebe der Wahrheit und der Menſchheit, die Witzler, die Abſprecher, die Schnell- entſcheider — die Ununterſucher! o die berufloſen Phyſiognomen! welch eine gefaͤhrliche Bande in der menſchlichen Geſellſchaft! — Jch ſage Phyſiognomiſten ohne Wahrheit und Vernunft — ich nehme es nicht zuruͤck; ich wiederhole es aufs kraͤftigſte. Phyſiognomiſcher Sinn iſt vor allen Din- gen ſchlechterdings unentbehrlich; iſt das erſte und weſentlichſte von allem, iſt das Auge der Na- tur — ohne welches alle Regeln und Anweiſungen einem Menſchen ſo unnuͤtze ſind, als einem Blin- den eine Brille — Aber! aber! ohne Weisheit, ohne vernuͤnftige Pruͤfung, ohne Zergliederung, ohne Vergleichung, Reihung, ohne Vernunft, ohne Regeln, ohne Uebung, ohne Zeichnung wird das feinſte phyſiognomiſche Genie wo nicht oft ſehr irren, doch gewiß ſehr irre machen. Wenigſtens werden ſeine Gefuͤhle ſich verwirren, und ſich nicht mittheilen laſſen. — Ehe ich alſo fuͤr meine Per- ſon einem Menſchen das Studium der Phyſiognomik empfehlen oder erlauben wuͤrde, muͤßte ich voll- kommen uͤberzeugt ſeyn — der Mann hat phyſiognomiſchen Sinn, hat Vernunft, und kann zeich- nen; hat wenigſtens Talent und einige Uebung des Zeichnens. Phyſiognomiſchen Sinn — die Charakteriſtik der Natur zu empfinden und zu leſen: Vernunft, ſeine Empfindungen in Beobachtun- gen aufzuloͤſen, durch allgemeine, abſtrakte Zeichen auszudruͤcken, und Zeichnungsgabe, die Charak- tere ſinnlich darzuſtellen. Es iſt unmoͤglich, daß ohne dieſes ein Menſch es jemals in der Phyſiognomik weit bringen werde. Heiß brennt mich oft die nicht ungegruͤndete Beſorgniß, daß unfaͤhige Men- ſchen die ſchwerſte aller Kenntniſſe, ſo ferne ſie beſtimmt und wiſſenſchaftlich ſeyn ſoll, allzuleicht auf ſich nehmen, und die Phyſiognomik in den uͤbelſten Ruf bringen werden. Jch will keinen Theil dran haben, denn ich warne zehnmal ſtatt einmal. Was iſt nicht ſchon in allen drey vorhergehenden Baͤnden dagegen geſagt worden? Es iſt wahr — nichts iſt leichter, als die Phyſiognomik zur allgemei- nen, taͤglichen Brauchbarkeit zu ſtudieren — wenn man Sinn, Vernunft und Zeichnungsgabe beſitzt. O mein lieber Graf! wenn Sie doch Leute ſehen, die ohne das ſich ins Heiligthum dieſer Wiſſenſchaft hinein wagen wollen — vereinigen Sie ſich doch mit mir, ſie davon abzuſchrecken. Alle Menſchen haben ein gewiſſes Maaß phyſiognomiſchen Sinnes — ich weiß es, und behaupte es mit lauter un- uͤbertaͤublicher Stimme; aber nicht jeder hat ſo viel Sinn, und zugleich ſo viel Vernunft, ſo viel Faͤ- higkeit, ſeine Beobachtungen haarſcharf zu beſtimmen und auszudruͤcken, daß er berufen iſt, aus der Phyſiognomik ein beſonderes Studium zu machen. Jch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/170>, abgerufen am 23.11.2024.