Jch eile dem Lieblinge des Himmels nach -- ich frage ihn, was ich wissen und nicht wissen will, um ihn näher zu sehen, um eine Stimme der Seele aus seinem Munde hervorzuhören, die alles Schiefe seiner Gestalt verschwinden läßt -- ich frage ihn nach seinem Berufe, seinem Wohn- ort, seiner Familie -- ich bitte ihn, mir einen Weg -- da, dorthin zu weisen -- ich überfalle ihn hernach in seinem Hause, seiner Werkstätte. Er will aufstehen. Er muß stille sitzen und fortarbei- ten. Jch sehe seine Kinder -- sein Weib -- mir wird wohl. Er weiß nicht was ich will. Jch weiß es auch nicht; doch ist mir wohl bey ihm; ihm wohl bey mir -- Jch bestelle was bey ihm -- oder auch nichts, wie es kömmt. Jch frage genau nach seinen Freunden! "Jhr habt vermuthlich we- "nige; aber dann recht treue!" -- Er schweigt erstaunt; lächelt und weinelt mit stiller Unschuld und Treuherzigkeit -- will beydes verbergen, und doch bleibt beydes unverborgen. Er gewinnt mich lieb -- Meine Gegenwart, durch die seinige gespannt, spannt und stärkt die seinige für mich -- Wir scheiden ungern von einander -- und ich weiß, ich habe ein Haus besucht, das Engel Gottes auch schon betraten.
O mit Jnteresse für die Menschheit und mit Menschenaugen reisen -- welche süße, sich hoch belohnende Mühe! Die Kinder Gottes, die in der Welt zerstreuet sind, schon zum voraus, im Geiste, so viel möglich in Eins zusammen bringen -- Mir däucht -- das ist auch Menschen- seligkeit -- wie's Engelsseligkeit ist.
Treff ichs nicht, so -- bin ich auf Gesellschaften eingeschränkt -- so horche ich mir gerade den heraus, der am wenigsten spricht; am leisesten, gelassensten spricht. --
Wo ich Lächeln der Genügsamkeit und des schiefen, marklosen Hohns wahrnehme -- weg von dem, zu dem, den ich gedrückt sehe von der lautern, sich ankündigendern Gegenwart anderer.
Jch stelle mich lieber neben den Antworter -- als den Vielschwätzer, und lieber neben den stillen Frager, als an den vielwissenden Antworter.
Wer hastig geht, und wer schleicht -- mag vor mir vorüber eilen, oder mir nachschlei- chen -- Jch suche mir mehr den, der freyen, gesetzten, unsteifen Trittes geht -- sich wenig um- sieht -- nicht empor das Haupt trägt, und den Blick nicht senkt auf seine Füße -- Es sey dann, daß die Hand des Trübsinns schwer auf ihm liege -- dann setze ich mich ihm an die Seite, fasse seine Hand -- und blicke, kann ichs nicht sagen, in seine Seele hinein -- Gott ist die Liebe ...
Jch
Phys. Fragm.IVVersuch. S
Ein Wort an Reiſende.
Jch eile dem Lieblinge des Himmels nach — ich frage ihn, was ich wiſſen und nicht wiſſen will, um ihn naͤher zu ſehen, um eine Stimme der Seele aus ſeinem Munde hervorzuhoͤren, die alles Schiefe ſeiner Geſtalt verſchwinden laͤßt — ich frage ihn nach ſeinem Berufe, ſeinem Wohn- ort, ſeiner Familie — ich bitte ihn, mir einen Weg — da, dorthin zu weiſen — ich uͤberfalle ihn hernach in ſeinem Hauſe, ſeiner Werkſtaͤtte. Er will aufſtehen. Er muß ſtille ſitzen und fortarbei- ten. Jch ſehe ſeine Kinder — ſein Weib — mir wird wohl. Er weiß nicht was ich will. Jch weiß es auch nicht; doch iſt mir wohl bey ihm; ihm wohl bey mir — Jch beſtelle was bey ihm — oder auch nichts, wie es koͤmmt. Jch frage genau nach ſeinen Freunden! „Jhr habt vermuthlich we- „nige; aber dann recht treue!“ — Er ſchweigt erſtaunt; laͤchelt und weinelt mit ſtiller Unſchuld und Treuherzigkeit — will beydes verbergen, und doch bleibt beydes unverborgen. Er gewinnt mich lieb — Meine Gegenwart, durch die ſeinige geſpannt, ſpannt und ſtaͤrkt die ſeinige fuͤr mich — Wir ſcheiden ungern von einander — und ich weiß, ich habe ein Haus beſucht, das Engel Gottes auch ſchon betraten.
O mit Jntereſſe fuͤr die Menſchheit und mit Menſchenaugen reiſen — welche ſuͤße, ſich hoch belohnende Muͤhe! Die Kinder Gottes, die in der Welt zerſtreuet ſind, ſchon zum voraus, im Geiſte, ſo viel moͤglich in Eins zuſammen bringen — Mir daͤucht — das iſt auch Menſchen- ſeligkeit — wie’s Engelsſeligkeit iſt.
Treff ichs nicht, ſo — bin ich auf Geſellſchaften eingeſchraͤnkt — ſo horche ich mir gerade den heraus, der am wenigſten ſpricht; am leiſeſten, gelaſſenſten ſpricht. —
Wo ich Laͤcheln der Genuͤgſamkeit und des ſchiefen, markloſen Hohns wahrnehme — weg von dem, zu dem, den ich gedruͤckt ſehe von der lautern, ſich ankuͤndigendern Gegenwart anderer.
Jch ſtelle mich lieber neben den Antworter — als den Vielſchwaͤtzer, und lieber neben den ſtillen Frager, als an den vielwiſſenden Antworter.
Wer haſtig geht, und wer ſchleicht — mag vor mir voruͤber eilen, oder mir nachſchlei- chen — Jch ſuche mir mehr den, der freyen, geſetzten, unſteifen Trittes geht — ſich wenig um- ſieht — nicht empor das Haupt traͤgt, und den Blick nicht ſenkt auf ſeine Fuͤße — Es ſey dann, daß die Hand des Truͤbſinns ſchwer auf ihm liege — dann ſetze ich mich ihm an die Seite, faſſe ſeine Hand — und blicke, kann ichs nicht ſagen, in ſeine Seele hinein — Gott iſt die Liebe ...
Jch
Phyſ. Fragm.IVVerſuch. S
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Ein Wort an Reiſende.
Jch eile dem Lieblinge des Himmels nach — ich frage ihn, was ich wiſſen und nicht wiſſen
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alles Schiefe ſeiner Geſtalt verſchwinden laͤßt — ich frage ihn nach ſeinem Berufe, ſeinem Wohn-
ort, ſeiner Familie — ich bitte ihn, mir einen Weg — da, dorthin zu weiſen — ich uͤberfalle ihn
hernach in ſeinem Hauſe, ſeiner Werkſtaͤtte. Er will aufſtehen. Er muß ſtille ſitzen und fortarbei-
ten. Jch ſehe ſeine Kinder — ſein Weib — mir wird wohl. Er weiß nicht was ich will. Jch weiß
es auch nicht; doch iſt mir wohl bey ihm; ihm wohl bey mir — Jch beſtelle was bey ihm — oder
auch nichts, wie es koͤmmt. Jch frage genau nach ſeinen Freunden! „Jhr habt vermuthlich we-
„nige; aber dann recht treue!“ — Er ſchweigt erſtaunt; laͤchelt und weinelt mit ſtiller Unſchuld und
Treuherzigkeit — will beydes verbergen, und doch bleibt beydes unverborgen. Er gewinnt mich
lieb — Meine Gegenwart, durch die ſeinige geſpannt, ſpannt und ſtaͤrkt die ſeinige fuͤr mich — Wir
ſcheiden ungern von einander — und ich weiß, ich habe ein Haus beſucht, das Engel Gottes auch
ſchon betraten.
O mit Jntereſſe fuͤr die Menſchheit und mit Menſchenaugen reiſen — welche ſuͤße, ſich hoch
belohnende Muͤhe! Die Kinder Gottes, die in der Welt zerſtreuet ſind, ſchon zum voraus,
im Geiſte, ſo viel moͤglich in Eins zuſammen bringen — Mir daͤucht — das iſt auch Menſchen-
ſeligkeit — wie’s Engelsſeligkeit iſt.
Treff ichs nicht, ſo — bin ich auf Geſellſchaften eingeſchraͤnkt — ſo horche ich mir gerade
den heraus, der am wenigſten ſpricht; am leiſeſten, gelaſſenſten ſpricht. —
Wo ich Laͤcheln der Genuͤgſamkeit und des ſchiefen, markloſen Hohns wahrnehme — weg
von dem, zu dem, den ich gedruͤckt ſehe von der lautern, ſich ankuͤndigendern Gegenwart anderer.
Jch ſtelle mich lieber neben den Antworter — als den Vielſchwaͤtzer, und lieber neben
den ſtillen Frager, als an den vielwiſſenden Antworter.
Wer haſtig geht, und wer ſchleicht — mag vor mir voruͤber eilen, oder mir nachſchlei-
chen — Jch ſuche mir mehr den, der freyen, geſetzten, unſteifen Trittes geht — ſich wenig um-
ſieht — nicht empor das Haupt traͤgt, und den Blick nicht ſenkt auf ſeine Fuͤße — Es ſey dann, daß
die Hand des Truͤbſinns ſchwer auf ihm liege — dann ſetze ich mich ihm an die Seite, faſſe ſeine
Hand — und blicke, kann ichs nicht ſagen, in ſeine Seele hinein — Gott iſt die Liebe ...
Jch
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. S
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/167>, abgerufen am 16.02.2025.
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