Für den Reisenden, däucht mir, sind drey Dinge schlechterdings unentbehrlich -- Gesundheit -- Geld -- Physiognomik! -- Also auch Ein physiognomisches Wort an Reisende -- die reisen, um zu reisen -- Lieber wollte ich, statt dieses einzigen Wortes -- daß ein physiognomisches Taschen- buch für Reisende geschrieben würde -- aber -- von keinem andern, als einem geübten Reiser. Jnzwischen nehmt mit dieser Brosame vorlieb. --
Was sucht ihr, Reisende? was wollt ihr? -- Sehen wollt ihr das Merkwürdigste, Son- derbarste, Seltenste, Kunstreichste, Kraftreichste! -- Giebt's etwas Sonderbarers, Sehenswer- thers, als die verschiedenen Editionen der Menschheit? -- Modeton ists wenigstens -- Jhr sucht Menschen! die weisesten, Genievollsten, besten Menschen. --
Und mehr, als diese, die berühmtesten!
Und warum seyd ihr so ängstlich begierig, diese wenigstens nur auch zu sehen? Nicht wollt ihr allemal von ihrem Lichte das eurige neu anzünden? nicht euch an ihnen sonnen und wärmen? oft nur sehen und schauen wollt ihr sie? -- Kinder seyd ihr, wenn ihr dieß bloß darum wollt, um sagen zu können: "Jch sah den Mann" -- Warum also euch allenfalls bloß mit dem begnügen -- zu sehen? Wenn jene kleine Absicht euch zu klein ist -- so bleibt euch, deucht mich, keine Absicht übrig, als die: sie physiognomisch kennen zu lernen. Wenn ihr weise seyd -- wollt ihr das Ver- hältniß ihrer Werke, ihres Ruhmes und -- ihrer Gestalt sehen, vergleichen, beurtheilen. Nun da könnt ihr freylich vieles lernen. Vergleichen könnt ihr das Canalwasser mit der Quelle -- fra- gen: "Aus dieser Quelle floß also dieß oder jenes? -- Wo ist sie, die Spur dieser Quelle -- wo "höre ich ihr Rauschen am nächsten? -- Was hat der Mann in sich -- was nur außer sich? Was "giebt er Eignes? was Fremdes? -- Diese Stirn also -- diese Augenbraune -- dichtet so? über- "setzt so? kritisirt so? -- So! von diesem Auge also hängt das Schicksal des Schriftstellers -- des "Stümpers und des Genies ab? So! diese Nase also beurtheilt und würdigt das Sterbliche und "Unsterbliche in den menschlichen Werken? So! nun -- schon gut -- wie das Trivunal, so das
Urtheil
II. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment. Ein Wort an Reiſende.
Fuͤr den Reiſenden, daͤucht mir, ſind drey Dinge ſchlechterdings unentbehrlich — Geſundheit — Geld — Phyſiognomik! — Alſo auch Ein phyſiognomiſches Wort an Reiſende — die reiſen, um zu reiſen — Lieber wollte ich, ſtatt dieſes einzigen Wortes — daß ein phyſiognomiſches Taſchen- buch fuͤr Reiſende geſchrieben wuͤrde — aber — von keinem andern, als einem geuͤbten Reiſer. Jnzwiſchen nehmt mit dieſer Broſame vorlieb. —
Was ſucht ihr, Reiſende? was wollt ihr? — Sehen wollt ihr das Merkwuͤrdigſte, Son- derbarſte, Seltenſte, Kunſtreichſte, Kraftreichſte! — Giebt’s etwas Sonderbarers, Sehenswer- thers, als die verſchiedenen Editionen der Menſchheit? — Modeton iſts wenigſtens — Jhr ſucht Menſchen! die weiſeſten, Genievollſten, beſten Menſchen. —
Und mehr, als dieſe, die beruͤhmteſten!
Und warum ſeyd ihr ſo aͤngſtlich begierig, dieſe wenigſtens nur auch zu ſehen? Nicht wollt ihr allemal von ihrem Lichte das eurige neu anzuͤnden? nicht euch an ihnen ſonnen und waͤrmen? oft nur ſehen und ſchauen wollt ihr ſie? — Kinder ſeyd ihr, wenn ihr dieß bloß darum wollt, um ſagen zu koͤnnen: „Jch ſah den Mann“ — Warum alſo euch allenfalls bloß mit dem begnuͤgen — zu ſehen? Wenn jene kleine Abſicht euch zu klein iſt — ſo bleibt euch, deucht mich, keine Abſicht uͤbrig, als die: ſie phyſiognomiſch kennen zu lernen. Wenn ihr weiſe ſeyd — wollt ihr das Ver- haͤltniß ihrer Werke, ihres Ruhmes und — ihrer Geſtalt ſehen, vergleichen, beurtheilen. Nun da koͤnnt ihr freylich vieles lernen. Vergleichen koͤnnt ihr das Canalwaſſer mit der Quelle — fra- gen: „Aus dieſer Quelle floß alſo dieß oder jenes? — Wo iſt ſie, die Spur dieſer Quelle — wo „hoͤre ich ihr Rauſchen am naͤchſten? — Was hat der Mann in ſich — was nur außer ſich? Was „giebt er Eignes? was Fremdes? — Dieſe Stirn alſo — dieſe Augenbraune — dichtet ſo? uͤber- „ſetzt ſo? kritiſirt ſo? — So! von dieſem Auge alſo haͤngt das Schickſal des Schriftſtellers — des „Stuͤmpers und des Genies ab? So! dieſe Naſe alſo beurtheilt und wuͤrdigt das Sterbliche und „Unſterbliche in den menſchlichen Werken? So! nun — ſchon gut — wie das Trivunal, ſo das
Urtheil
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II. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Ein Wort an Reiſende.
Fuͤr den Reiſenden, daͤucht mir, ſind drey Dinge ſchlechterdings unentbehrlich — Geſundheit —
Geld — Phyſiognomik! — Alſo auch Ein phyſiognomiſches Wort an Reiſende — die reiſen, um
zu reiſen — Lieber wollte ich, ſtatt dieſes einzigen Wortes — daß ein phyſiognomiſches Taſchen-
buch fuͤr Reiſende geſchrieben wuͤrde — aber — von keinem andern, als einem geuͤbten Reiſer.
Jnzwiſchen nehmt mit dieſer Broſame vorlieb. —
Was ſucht ihr, Reiſende? was wollt ihr? — Sehen wollt ihr das Merkwuͤrdigſte, Son-
derbarſte, Seltenſte, Kunſtreichſte, Kraftreichſte! — Giebt’s etwas Sonderbarers, Sehenswer-
thers, als die verſchiedenen Editionen der Menſchheit? — Modeton iſts wenigſtens — Jhr ſucht
Menſchen! die weiſeſten, Genievollſten, beſten Menſchen. —
Und mehr, als dieſe, die beruͤhmteſten!
Und warum ſeyd ihr ſo aͤngſtlich begierig, dieſe wenigſtens nur auch zu ſehen? Nicht wollt
ihr allemal von ihrem Lichte das eurige neu anzuͤnden? nicht euch an ihnen ſonnen und waͤrmen?
oft nur ſehen und ſchauen wollt ihr ſie? — Kinder ſeyd ihr, wenn ihr dieß bloß darum wollt, um
ſagen zu koͤnnen: „Jch ſah den Mann“ — Warum alſo euch allenfalls bloß mit dem begnuͤgen —
zu ſehen? Wenn jene kleine Abſicht euch zu klein iſt — ſo bleibt euch, deucht mich, keine Abſicht uͤbrig,
als die: ſie phyſiognomiſch kennen zu lernen. Wenn ihr weiſe ſeyd — wollt ihr das Ver-
haͤltniß ihrer Werke, ihres Ruhmes und — ihrer Geſtalt ſehen, vergleichen, beurtheilen. Nun
da koͤnnt ihr freylich vieles lernen. Vergleichen koͤnnt ihr das Canalwaſſer mit der Quelle — fra-
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„hoͤre ich ihr Rauſchen am naͤchſten? — Was hat der Mann in ſich — was nur außer ſich? Was
„giebt er Eignes? was Fremdes? — Dieſe Stirn alſo — dieſe Augenbraune — dichtet ſo? uͤber-
„ſetzt ſo? kritiſirt ſo? — So! von dieſem Auge alſo haͤngt das Schickſal des Schriftſtellers — des
„Stuͤmpers und des Genies ab? So! dieſe Naſe alſo beurtheilt und wuͤrdigt das Sterbliche und
„Unſterbliche in den menſchlichen Werken? So! nun — ſchon gut — wie das Trivunal, ſo das
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/164>, abgerufen am 17.11.2024.
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