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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Physiognomischer Sinn, Genie, Ahndung.
talkraft des Menschen auf uns ist; oder weil sie uns lehrt, was wir von einem Menschen zu hoffen
oder zu fürchten haben. Daher der Punkt der Leidenschaft, wie diese noch erkennbarer, als die Ver-
standeskräfte; die Verstandeskräfte in Bewegung erkennbarer, als die in Ruhe -- Nicht eben, als
ob die in Ruhe an sich nicht so erkennbar seyn -- aber das Jnteresse, das die Bewegung wirkt,
spannt unsere Empfindung. Fehlt dieß Jnteresse, so sehen wir oft das allersichtbarste nicht. Der
Weise hat Augen für den Weisen. Der Gute für den Guten. Der Arme für den Reichen. Der
Wollüstige für reizende Schönheit. Das Jnteresse macht alles unsichtbare sichtbar -- und das am
allersichtbarsten, was die unmittelbarste Beziehung auf unser gegenwärtiges Bedürfniß hat. Da-
her das allgemeinste Bemerken der Leidenschaften, von denen unser Glück oder Unglück abhängt.
Es interessirt den gemeinen Armen viel mehr, daß ihm jemand viel giebt, als daß er viel hat. Dar-
um bemerkt er leichter und schneller die Miene des Gebenden, als des Habenden. Nur feinere, stär-
kere, freyere Seelen interessirt das Haben anderer mehr, als ihr aktuelles Geben. Bewegung des
Gesichtes, leidenschaftlicher Ausdruck kündigt uns mehr an, was der Mensch in dem gegebenen Mo-
mente für uns ist; uns geben, uns nehmen will; und wir wissen, wie sich gemeiniglich die ganze
Existenz eines Menschen durch das Jnteresse eines Augenblickes bestimmt und fixirt. Daher je mehr
Leidenschaft in einem Gesichte spricht oder schweigt -- desto allgemeiner, erkennbarer und fühlbarer
ist das Gesicht dem pathognomischen Sinn anderer.

Daher giebt's so unzählige Gesichter, die unzähligen Gesichtern auf den ersten Moment so-
gleich gefallen oder mißfallen; und ob man gleich gemeiniglich den Grund davon nicht eben so geschwind
angeben kann; und obgleich dieß Gefallen und Mißfallen schlechterdings nicht auf Erfahrungen, nicht
auf Räsonnement beruhet: so wird sich doch allemal bey genauer Untersuchung finden, daß nur die-
jenigen Gesichter allgefällig sind, die gewisser drückender und kränkender Leidenschaften beynahe un-
fähig sind; die hingegen allmißfällig, welche sich leicht zu kränkenden und drückenden Gemüthsbe-
wegungen reizen lassen; folglich, daß die Natur uns eben sowohl einen Sinn für ruhende Leiden-
schaften, als für die bewegten gegeben hat. Dieß Gesicht gefällt jedermann -- warum? Es ist
nicht nur ohne widrige Leidenschaft -- sondern es drohet auch keine widrige Leidenschaft. Jenes
Gesicht mißfällt allgemein -- warum? Nicht eben, weil es gerade itzt voll einer in Bewegung ge-
setzten Leidenschaft ist -- Warum dann? -- Weil es uns mit dieser Leidenschaft drohet. Nicht,

daß
Phys. Fragm. IV Versuch. Q

Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung.
talkraft des Menſchen auf uns iſt; oder weil ſie uns lehrt, was wir von einem Menſchen zu hoffen
oder zu fuͤrchten haben. Daher der Punkt der Leidenſchaft, wie dieſe noch erkennbarer, als die Ver-
ſtandeskraͤfte; die Verſtandeskraͤfte in Bewegung erkennbarer, als die in Ruhe — Nicht eben, als
ob die in Ruhe an ſich nicht ſo erkennbar ſeyn — aber das Jntereſſe, das die Bewegung wirkt,
ſpannt unſere Empfindung. Fehlt dieß Jntereſſe, ſo ſehen wir oft das allerſichtbarſte nicht. Der
Weiſe hat Augen fuͤr den Weiſen. Der Gute fuͤr den Guten. Der Arme fuͤr den Reichen. Der
Wolluͤſtige fuͤr reizende Schoͤnheit. Das Jntereſſe macht alles unſichtbare ſichtbar — und das am
allerſichtbarſten, was die unmittelbarſte Beziehung auf unſer gegenwaͤrtiges Beduͤrfniß hat. Da-
her das allgemeinſte Bemerken der Leidenſchaften, von denen unſer Gluͤck oder Ungluͤck abhaͤngt.
Es intereſſirt den gemeinen Armen viel mehr, daß ihm jemand viel giebt, als daß er viel hat. Dar-
um bemerkt er leichter und ſchneller die Miene des Gebenden, als des Habenden. Nur feinere, ſtaͤr-
kere, freyere Seelen intereſſirt das Haben anderer mehr, als ihr aktuelles Geben. Bewegung des
Geſichtes, leidenſchaftlicher Ausdruck kuͤndigt uns mehr an, was der Menſch in dem gegebenen Mo-
mente fuͤr uns iſt; uns geben, uns nehmen will; und wir wiſſen, wie ſich gemeiniglich die ganze
Exiſtenz eines Menſchen durch das Jntereſſe eines Augenblickes beſtimmt und fixirt. Daher je mehr
Leidenſchaft in einem Geſichte ſpricht oder ſchweigt — deſto allgemeiner, erkennbarer und fuͤhlbarer
iſt das Geſicht dem pathognomiſchen Sinn anderer.

Daher giebt’s ſo unzaͤhlige Geſichter, die unzaͤhligen Geſichtern auf den erſten Moment ſo-
gleich gefallen oder mißfallen; und ob man gleich gemeiniglich den Grund davon nicht eben ſo geſchwind
angeben kann; und obgleich dieß Gefallen und Mißfallen ſchlechterdings nicht auf Erfahrungen, nicht
auf Raͤſonnement beruhet: ſo wird ſich doch allemal bey genauer Unterſuchung finden, daß nur die-
jenigen Geſichter allgefaͤllig ſind, die gewiſſer druͤckender und kraͤnkender Leidenſchaften beynahe un-
faͤhig ſind; die hingegen allmißfaͤllig, welche ſich leicht zu kraͤnkenden und druͤckenden Gemuͤthsbe-
wegungen reizen laſſen; folglich, daß die Natur uns eben ſowohl einen Sinn fuͤr ruhende Leiden-
ſchaften, als fuͤr die bewegten gegeben hat. Dieß Geſicht gefaͤllt jedermann — warum? Es iſt
nicht nur ohne widrige Leidenſchaft — ſondern es drohet auch keine widrige Leidenſchaft. Jenes
Geſicht mißfaͤllt allgemein — warum? Nicht eben, weil es gerade itzt voll einer in Bewegung ge-
ſetzten Leidenſchaft iſt — Warum dann? — Weil es uns mit dieſer Leidenſchaft drohet. Nicht,

daß
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. Q
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[121/0149] Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung. talkraft des Menſchen auf uns iſt; oder weil ſie uns lehrt, was wir von einem Menſchen zu hoffen oder zu fuͤrchten haben. Daher der Punkt der Leidenſchaft, wie dieſe noch erkennbarer, als die Ver- ſtandeskraͤfte; die Verſtandeskraͤfte in Bewegung erkennbarer, als die in Ruhe — Nicht eben, als ob die in Ruhe an ſich nicht ſo erkennbar ſeyn — aber das Jntereſſe, das die Bewegung wirkt, ſpannt unſere Empfindung. Fehlt dieß Jntereſſe, ſo ſehen wir oft das allerſichtbarſte nicht. Der Weiſe hat Augen fuͤr den Weiſen. Der Gute fuͤr den Guten. Der Arme fuͤr den Reichen. Der Wolluͤſtige fuͤr reizende Schoͤnheit. Das Jntereſſe macht alles unſichtbare ſichtbar — und das am allerſichtbarſten, was die unmittelbarſte Beziehung auf unſer gegenwaͤrtiges Beduͤrfniß hat. Da- her das allgemeinſte Bemerken der Leidenſchaften, von denen unſer Gluͤck oder Ungluͤck abhaͤngt. Es intereſſirt den gemeinen Armen viel mehr, daß ihm jemand viel giebt, als daß er viel hat. Dar- um bemerkt er leichter und ſchneller die Miene des Gebenden, als des Habenden. Nur feinere, ſtaͤr- kere, freyere Seelen intereſſirt das Haben anderer mehr, als ihr aktuelles Geben. Bewegung des Geſichtes, leidenſchaftlicher Ausdruck kuͤndigt uns mehr an, was der Menſch in dem gegebenen Mo- mente fuͤr uns iſt; uns geben, uns nehmen will; und wir wiſſen, wie ſich gemeiniglich die ganze Exiſtenz eines Menſchen durch das Jntereſſe eines Augenblickes beſtimmt und fixirt. Daher je mehr Leidenſchaft in einem Geſichte ſpricht oder ſchweigt — deſto allgemeiner, erkennbarer und fuͤhlbarer iſt das Geſicht dem pathognomiſchen Sinn anderer. Daher giebt’s ſo unzaͤhlige Geſichter, die unzaͤhligen Geſichtern auf den erſten Moment ſo- gleich gefallen oder mißfallen; und ob man gleich gemeiniglich den Grund davon nicht eben ſo geſchwind angeben kann; und obgleich dieß Gefallen und Mißfallen ſchlechterdings nicht auf Erfahrungen, nicht auf Raͤſonnement beruhet: ſo wird ſich doch allemal bey genauer Unterſuchung finden, daß nur die- jenigen Geſichter allgefaͤllig ſind, die gewiſſer druͤckender und kraͤnkender Leidenſchaften beynahe un- faͤhig ſind; die hingegen allmißfaͤllig, welche ſich leicht zu kraͤnkenden und druͤckenden Gemuͤthsbe- wegungen reizen laſſen; folglich, daß die Natur uns eben ſowohl einen Sinn fuͤr ruhende Leiden- ſchaften, als fuͤr die bewegten gegeben hat. Dieß Geſicht gefaͤllt jedermann — warum? Es iſt nicht nur ohne widrige Leidenſchaft — ſondern es drohet auch keine widrige Leidenſchaft. Jenes Geſicht mißfaͤllt allgemein — warum? Nicht eben, weil es gerade itzt voll einer in Bewegung ge- ſetzten Leidenſchaft iſt — Warum dann? — Weil es uns mit dieſer Leidenſchaft drohet. Nicht, daß Phyſ. Fragm. IV Verſuch. Q

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/149>, abgerufen am 22.11.2024.