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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. I. Fragment.
"eben die entsprechenden Geistesdispositionen werden ihm natürlich und geläufig seyn. Nämlich die
"Gesichter sind ursprünglich so gebildet, daß dem einen die, dem andern jene Miene leichter wird.
"Einem Dummkopf wird es platterdings unmöglich seyn, eine scharfsinnige Miene zu machen.
"Könnte ers; er wäre scharfsinnig. -- Einem offenen Menschen unmöglich, eine diebische Miene zu
"machen. Könnte ers; er würde ein Dieb werden." -- Alles vortrefflich, bis auf die letzte dieser
Behauptungen -- Es ist kein Mensch so gut, daß er nicht unter gewissen Umständen ein Dieb wer-
den könnte. Wenigstens ist keine physische Unmöglichkeit da, es zu werden. Er ist so organisirt, daß
ihn die Lust anwandeln, die Versuchung reizen kann, zu stehlen -- Die Möglichkeit zur Diebsmie-
ne muß also da seyn, wie die Möglichkeit der Dieberey. Er muß also diese Diebsmiene, wenn er sie
an einem Diebe bemerkt, nachmachen können -- ohne daß er deswegen ein Dieb wird. Ganz
ungleich verhält es sich, meines Bedünkens, mit der Möglichkeit, gute Mienen anzunehmen. Die
schlechten Mienen sind vom guten Menschen immer eher anzunehmen, als die guten Mienen von dem
schlechten Menschen angenommen werden können. So wie's offenbar viel leichter ist -- böse zu wer-
den, wenn man gut ist; als gut zu werden, wenn man böse ist. Verstand, Empfindung, Talent, Ge-
nie, Tugend, Religion -- kann viel leichter verloren, als gewonnen werden. Herabsteigen kann
der beste Mensch so tief als er will -- aber nicht heraufsteigen so hoch er will. Der Weise kann
physisch ohne Wunder ein Narr, und der Tugendheld ein Bösewicht werden -- aber ohne Wunder
kann der geborne Dummkopf kein Philosoph -- der krumme Bösewicht nicht edel und reines Her-
zens werden. Die alabasterweiße Schönheit kann schwarz werden und verschrumpfen -- aber der
Mohr kann sich nicht weiß waschen. -- Jch werde auch nicht deswegen ein Mohr, weil ich mich ad
Imitationem
schwarz färbe -- und so nicht deswegen ein Dieb -- weil ich allenfalls eine Diebsmie-
ne einem Diebe abentlehne.

8.

"Der Physiognomiker darf nur untersuchen: welche Mienen werden diesem Gesichte
"am leichtesten?
Hat er diese gefunden; so weiß er auch schon, was für Geistesdispositionen die-
"sem Menschen gewöhnlich sind. Nicht, daß das Physiognomisiren deswegen eine leichte Sache sey!
"Jm Gegentheil dieß zeigt vielmehr, wie viel Genie, wie viel Einbildungskraft und Talente sich in
"einem Physiognomiker vereinigen müssen. Der Mann muß nicht nur auf das achten, was er sieht;

sondern

II. Abſchnitt. I. Fragment.
„eben die entſprechenden Geiſtesdiſpoſitionen werden ihm natuͤrlich und gelaͤufig ſeyn. Naͤmlich die
„Geſichter ſind urſpruͤnglich ſo gebildet, daß dem einen die, dem andern jene Miene leichter wird.
„Einem Dummkopf wird es platterdings unmoͤglich ſeyn, eine ſcharfſinnige Miene zu machen.
„Koͤnnte ers; er waͤre ſcharfſinnig. — Einem offenen Menſchen unmoͤglich, eine diebiſche Miene zu
„machen. Koͤnnte ers; er wuͤrde ein Dieb werden.“ — Alles vortrefflich, bis auf die letzte dieſer
Behauptungen — Es iſt kein Menſch ſo gut, daß er nicht unter gewiſſen Umſtaͤnden ein Dieb wer-
den koͤnnte. Wenigſtens iſt keine phyſiſche Unmoͤglichkeit da, es zu werden. Er iſt ſo organiſirt, daß
ihn die Luſt anwandeln, die Verſuchung reizen kann, zu ſtehlen — Die Moͤglichkeit zur Diebsmie-
ne muß alſo da ſeyn, wie die Moͤglichkeit der Dieberey. Er muß alſo dieſe Diebsmiene, wenn er ſie
an einem Diebe bemerkt, nachmachen koͤnnen — ohne daß er deswegen ein Dieb wird. Ganz
ungleich verhaͤlt es ſich, meines Beduͤnkens, mit der Moͤglichkeit, gute Mienen anzunehmen. Die
ſchlechten Mienen ſind vom guten Menſchen immer eher anzunehmen, als die guten Mienen von dem
ſchlechten Menſchen angenommen werden koͤnnen. So wie’s offenbar viel leichter iſt — boͤſe zu wer-
den, wenn man gut iſt; als gut zu werden, wenn man boͤſe iſt. Verſtand, Empfindung, Talent, Ge-
nie, Tugend, Religion — kann viel leichter verloren, als gewonnen werden. Herabſteigen kann
der beſte Menſch ſo tief als er will — aber nicht heraufſteigen ſo hoch er will. Der Weiſe kann
phyſiſch ohne Wunder ein Narr, und der Tugendheld ein Boͤſewicht werden — aber ohne Wunder
kann der geborne Dummkopf kein Philoſoph — der krumme Boͤſewicht nicht edel und reines Her-
zens werden. Die alabaſterweiße Schoͤnheit kann ſchwarz werden und verſchrumpfen — aber der
Mohr kann ſich nicht weiß waſchen. — Jch werde auch nicht deswegen ein Mohr, weil ich mich ad
Imitationem
ſchwarz faͤrbe — und ſo nicht deswegen ein Dieb — weil ich allenfalls eine Diebsmie-
ne einem Diebe abentlehne.

8.

„Der Phyſiognomiker darf nur unterſuchen: welche Mienen werden dieſem Geſichte
„am leichteſten?
Hat er dieſe gefunden; ſo weiß er auch ſchon, was fuͤr Geiſtesdiſpoſitionen die-
„ſem Menſchen gewoͤhnlich ſind. Nicht, daß das Phyſiognomiſiren deswegen eine leichte Sache ſey!
„Jm Gegentheil dieß zeigt vielmehr, wie viel Genie, wie viel Einbildungskraft und Talente ſich in
„einem Phyſiognomiker vereinigen muͤſſen. Der Mann muß nicht nur auf das achten, was er ſieht;

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[110/0138] II. Abſchnitt. I. Fragment. „eben die entſprechenden Geiſtesdiſpoſitionen werden ihm natuͤrlich und gelaͤufig ſeyn. Naͤmlich die „Geſichter ſind urſpruͤnglich ſo gebildet, daß dem einen die, dem andern jene Miene leichter wird. „Einem Dummkopf wird es platterdings unmoͤglich ſeyn, eine ſcharfſinnige Miene zu machen. „Koͤnnte ers; er waͤre ſcharfſinnig. — Einem offenen Menſchen unmoͤglich, eine diebiſche Miene zu „machen. Koͤnnte ers; er wuͤrde ein Dieb werden.“ — Alles vortrefflich, bis auf die letzte dieſer Behauptungen — Es iſt kein Menſch ſo gut, daß er nicht unter gewiſſen Umſtaͤnden ein Dieb wer- den koͤnnte. Wenigſtens iſt keine phyſiſche Unmoͤglichkeit da, es zu werden. Er iſt ſo organiſirt, daß ihn die Luſt anwandeln, die Verſuchung reizen kann, zu ſtehlen — Die Moͤglichkeit zur Diebsmie- ne muß alſo da ſeyn, wie die Moͤglichkeit der Dieberey. Er muß alſo dieſe Diebsmiene, wenn er ſie an einem Diebe bemerkt, nachmachen koͤnnen — ohne daß er deswegen ein Dieb wird. Ganz ungleich verhaͤlt es ſich, meines Beduͤnkens, mit der Moͤglichkeit, gute Mienen anzunehmen. Die ſchlechten Mienen ſind vom guten Menſchen immer eher anzunehmen, als die guten Mienen von dem ſchlechten Menſchen angenommen werden koͤnnen. So wie’s offenbar viel leichter iſt — boͤſe zu wer- den, wenn man gut iſt; als gut zu werden, wenn man boͤſe iſt. Verſtand, Empfindung, Talent, Ge- nie, Tugend, Religion — kann viel leichter verloren, als gewonnen werden. Herabſteigen kann der beſte Menſch ſo tief als er will — aber nicht heraufſteigen ſo hoch er will. Der Weiſe kann phyſiſch ohne Wunder ein Narr, und der Tugendheld ein Boͤſewicht werden — aber ohne Wunder kann der geborne Dummkopf kein Philoſoph — der krumme Boͤſewicht nicht edel und reines Her- zens werden. Die alabaſterweiße Schoͤnheit kann ſchwarz werden und verſchrumpfen — aber der Mohr kann ſich nicht weiß waſchen. — Jch werde auch nicht deswegen ein Mohr, weil ich mich ad Imitationem ſchwarz faͤrbe — und ſo nicht deswegen ein Dieb — weil ich allenfalls eine Diebsmie- ne einem Diebe abentlehne. 8. „Der Phyſiognomiker darf nur unterſuchen: welche Mienen werden dieſem Geſichte „am leichteſten? Hat er dieſe gefunden; ſo weiß er auch ſchon, was fuͤr Geiſtesdiſpoſitionen die- „ſem Menſchen gewoͤhnlich ſind. Nicht, daß das Phyſiognomiſiren deswegen eine leichte Sache ſey! „Jm Gegentheil dieß zeigt vielmehr, wie viel Genie, wie viel Einbildungskraft und Talente ſich in „einem Phyſiognomiker vereinigen muͤſſen. Der Mann muß nicht nur auf das achten, was er ſieht; ſondern

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/138>, abgerufen am 17.11.2024.