vorgebogenen Nasenwurzel, "da wohnen," (nach dem vortrefflichen Ausdruck eines neuerlichen Schriftstellers, den man mit mir zu verwechseln mir die höchst unverdiente Ehre anthat,) "da woh- "nen fürchterliche Leiden, verschlungen in die Riesenkraft, die sie trägt, und überwindet -- einge- "wurzelte Festigkeit und Fülle des Geistes."
Doch habe ich auch große allanerkannte Genieen ohne dieß Zeichen, ja mit den schwächsten Nasenwurzeln gesehen. Aber ihre Genialität war auch von jener wesentlich verschieden. So mäch- tig und stark sie waren -- ihre Stärke war nicht innerlich fester gewurzelter Zustand; war nur hohe Gespanntheit. Diese waren allemal sinnlicher, reizbarer, und von einer gewissen Seite schwächer, weibischer; hatten mehr ruhigen Verstand, Vernunft, Abstraktionsgabe, Zergliederungsfähigkeit -- verbreiteten sich mehr -- hatten mehr Jmagination, mehr Liebe, mehr Empfindung, mehr Ver- nunft, als Geist; mehr Reizbarkeit als Kraft -- zogen mehr an, als sie zurückstießen.
Jntensife Genieen, die auf Einen Punkt mächtig wirken, sind stärker geknocht, haben festeres Fleisch, sind schwerer und einfacher in ihren Bewegungen, haben festere Stirnknoten, und perpendikulärere Stirnen, als --
Extensife Genieen, die auf weiten Umfang wirken. Diese sind zärter, länglichter, lufti- ger, lockerer gebildet, haben zurückgehende Stirnen u. s. f.
Alle Genieen des Sehens, Empfindens, Handelns, alle Genieen in der Welt, glaube ich, lassen sich überhaupt unter drey Klassen bringen -- Genieen des Details; Genieen fürs Gan- ze; Genieen für beydes.
1) Jnspirationsähnlicher Sinn, unnachahmliche Kraft fürs Kleine, Abgesonderte -- Ge- nie fürs Detail -- gemeiniglich Künstlergenie genannt; -- (Hamiltons Papilion und Eydexe -- und Tenners Köpfe machen es kennbar,) hat seinen Adelsbrief im Scharfblick -- größtentheils in dem hineingeschobenen obern Augenlied und der Jntension eines unanziehenden -- ausflußlosen, nur einem Raubvogel gleich herausholenden Blickes, und kleinlichen, scharfgezeichneten Gesichtszügen -- Sehet Augspurger und Nürnberger Mahler und Künstler die Menge.
2) Jn-
M 2
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie.
vorgebogenen Naſenwurzel, „da wohnen,“ (nach dem vortrefflichen Ausdruck eines neuerlichen Schriftſtellers, den man mit mir zu verwechſeln mir die hoͤchſt unverdiente Ehre anthat,) „da woh- „nen fuͤrchterliche Leiden, verſchlungen in die Rieſenkraft, die ſie traͤgt, und uͤberwindet — einge- „wurzelte Feſtigkeit und Fuͤlle des Geiſtes.“
Doch habe ich auch große allanerkannte Genieen ohne dieß Zeichen, ja mit den ſchwaͤchſten Naſenwurzeln geſehen. Aber ihre Genialitaͤt war auch von jener weſentlich verſchieden. So maͤch- tig und ſtark ſie waren — ihre Staͤrke war nicht innerlich feſter gewurzelter Zuſtand; war nur hohe Geſpanntheit. Dieſe waren allemal ſinnlicher, reizbarer, und von einer gewiſſen Seite ſchwaͤcher, weibiſcher; hatten mehr ruhigen Verſtand, Vernunft, Abſtraktionsgabe, Zergliederungsfaͤhigkeit — verbreiteten ſich mehr — hatten mehr Jmagination, mehr Liebe, mehr Empfindung, mehr Ver- nunft, als Geiſt; mehr Reizbarkeit als Kraft — zogen mehr an, als ſie zuruͤckſtießen.
Jntenſife Genieen, die auf Einen Punkt maͤchtig wirken, ſind ſtaͤrker geknocht, haben feſteres Fleiſch, ſind ſchwerer und einfacher in ihren Bewegungen, haben feſtere Stirnknoten, und perpendikulaͤrere Stirnen, als —
Extenſife Genieen, die auf weiten Umfang wirken. Dieſe ſind zaͤrter, laͤnglichter, lufti- ger, lockerer gebildet, haben zuruͤckgehende Stirnen u. ſ. f.
Alle Genieen des Sehens, Empfindens, Handelns, alle Genieen in der Welt, glaube ich, laſſen ſich uͤberhaupt unter drey Klaſſen bringen — Genieen des Details; Genieen fuͤrs Gan- ze; Genieen fuͤr beydes.
1) Jnſpirationsaͤhnlicher Sinn, unnachahmliche Kraft fuͤrs Kleine, Abgeſonderte — Ge- nie fuͤrs Detail — gemeiniglich Kuͤnſtlergenie genannt; — (Hamiltons Papilion und Eydexe — und Tenners Koͤpfe machen es kennbar,) hat ſeinen Adelsbrief im Scharfblick — groͤßtentheils in dem hineingeſchobenen obern Augenlied und der Jntenſion eines unanziehenden — ausflußloſen, nur einem Raubvogel gleich herausholenden Blickes, und kleinlichen, ſcharfgezeichneten Geſichtszuͤgen — Sehet Augſpurger und Nuͤrnberger Mahler und Kuͤnſtler die Menge.
2) Jn-
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„nen fuͤrchterliche Leiden, verſchlungen in die Rieſenkraft, die ſie traͤgt, und uͤberwindet — einge-
„wurzelte Feſtigkeit und Fuͤlle des Geiſtes.“
Doch habe ich auch große allanerkannte Genieen ohne dieß Zeichen, ja mit den ſchwaͤchſten
Naſenwurzeln geſehen. Aber ihre Genialitaͤt war auch von jener weſentlich verſchieden. So maͤch-
tig und ſtark ſie waren — ihre Staͤrke war nicht innerlich feſter gewurzelter Zuſtand; war nur hohe
Geſpanntheit. Dieſe waren allemal ſinnlicher, reizbarer, und von einer gewiſſen Seite ſchwaͤcher,
weibiſcher; hatten mehr ruhigen Verſtand, Vernunft, Abſtraktionsgabe, Zergliederungsfaͤhigkeit —
verbreiteten ſich mehr — hatten mehr Jmagination, mehr Liebe, mehr Empfindung, mehr Ver-
nunft, als Geiſt; mehr Reizbarkeit als Kraft — zogen mehr an, als ſie zuruͤckſtießen.
Jntenſife Genieen, die auf Einen Punkt maͤchtig wirken, ſind ſtaͤrker geknocht, haben
feſteres Fleiſch, ſind ſchwerer und einfacher in ihren Bewegungen, haben feſtere Stirnknoten, und
perpendikulaͤrere Stirnen, als —
Extenſife Genieen, die auf weiten Umfang wirken. Dieſe ſind zaͤrter, laͤnglichter, lufti-
ger, lockerer gebildet, haben zuruͤckgehende Stirnen u. ſ. f.
Alle Genieen des Sehens, Empfindens, Handelns, alle Genieen in der Welt, glaube ich,
laſſen ſich uͤberhaupt unter drey Klaſſen bringen — Genieen des Details; Genieen fuͤrs Gan-
ze; Genieen fuͤr beydes.
1) Jnſpirationsaͤhnlicher Sinn, unnachahmliche Kraft fuͤrs Kleine, Abgeſonderte — Ge-
nie fuͤrs Detail — gemeiniglich Kuͤnſtlergenie genannt; — (Hamiltons Papilion und Eydexe —
und Tenners Koͤpfe machen es kennbar,) hat ſeinen Adelsbrief im Scharfblick — groͤßtentheils in
dem hineingeſchobenen obern Augenlied und der Jntenſion eines unanziehenden — ausflußloſen, nur
einem Raubvogel gleich herausholenden Blickes, und kleinlichen, ſcharfgezeichneten Geſichtszuͤgen —
Sehet Augſpurger und Nuͤrnberger Mahler und Kuͤnſtler die Menge.
2) Jn-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/119>, abgerufen am 16.07.2024.
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