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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. IX. Fragment. Vermischte Gedanken
3.

"Jedes Temperament und jeder Charakter hat sein Gutes und Schlimmes. Der eine ist
"zu etwas aufgelegt, wozu der andere nicht fähig ist. Freylich hat der eine mehr als der andere --
"Das Gold hat einen höhern Werth als die Münze; gleichwohl können wir jenes eher entbehren,
"als diese. Die Tulpe gefällt durch ihre Schönheit; die Nelke reizt durch ihren Geruch; der un-
"ansehnliche Wermuth ist dem Geschmacke und Geruche nach unangenehm; übertrifft aber beyde
"an Heilkraft. Und auf solche Art trägt ein jedes zur Vollkommenheit des Ganzen das Seinige
"bey." -- Jch setze aus Paulus hinzu: "Gleichwie wir an Einem Leibe viele Glieder ha-
"ben, alle die Glieder aber nicht einerley Geschäffte haben -- also sind wir viele Ein
"Einziger Leib -- und haben verschiedene Gnadengaben -- Wenn nun der Fuß sagte:
"Jch bin keine Hand u. s. w. Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre das Gehör?
"u. s. w. Es darf das Auge nicht zu der Hand sagen: ich bedarf deiner nicht. -- Die,
"welche die schwächern Glieder des Leibes zu seyn scheinen; diesen legen wir desto mehr
"Ehre an. -- Gott hat den Leib so zusammengeordnet, daß er dem, das weniger hatte,
"desto mehr Ehre gegeben, damit keine Trennung am Leibe sey, sondern die Glieder
"für einander einerley Sorge tragen mögen. -- Was thöricht ist vor der Welt, das hat
"Gott erwählt, daß er zuschanden mache was stark ist; und das Unedle und das Ver-
"achtete vor der Welt hat Gott erwählet, und was nichts ist, daß er zunichte mache was
"Etwas ist, damit sich kein Fleisch vor Gott rühmen möge ... Nur bleibe ein jeder in
"dem Berufe, wie er von Gott berufen ist."
Die Nelke soll nicht Tulpe, der Finger nicht
Auge seyn wollen -- und der Schwache wolle sich nicht erheben aus seinem Kreise in den Kreis des
Starken. Jeder hat seinen eigenen Kreis, wie seine eigene Gestalt. Aus seinem Kreise heraus-
treten wollen -- heißt: sich auf einen andern Rumpf verpflanzen wollen.

4.

"Man versichert, daß unsere wirksame Natur in weniger Zeit als einem Jahre fast kein
"Theilchen mehr von unserm alten Körper übrig lasse -- und doch werden wir, ungeachtet unser
"Körper den größten Veränderungen von Speise, Trank und Luft etc. unterworfen gewesen, keine
"Veränderungen des Gemüths gewahr. Die Verschiedenheit der Luft und der Lebensart bringt

keine
I. Abſchnitt. IX. Fragment. Vermiſchte Gedanken
3.

„Jedes Temperament und jeder Charakter hat ſein Gutes und Schlimmes. Der eine iſt
„zu etwas aufgelegt, wozu der andere nicht faͤhig iſt. Freylich hat der eine mehr als der andere —
„Das Gold hat einen hoͤhern Werth als die Muͤnze; gleichwohl koͤnnen wir jenes eher entbehren,
„als dieſe. Die Tulpe gefaͤllt durch ihre Schoͤnheit; die Nelke reizt durch ihren Geruch; der un-
„anſehnliche Wermuth iſt dem Geſchmacke und Geruche nach unangenehm; uͤbertrifft aber beyde
„an Heilkraft. Und auf ſolche Art traͤgt ein jedes zur Vollkommenheit des Ganzen das Seinige
„bey.“ — Jch ſetze aus Paulus hinzu: „Gleichwie wir an Einem Leibe viele Glieder ha-
„ben, alle die Glieder aber nicht einerley Geſchaͤffte haben — alſo ſind wir viele Ein
„Einziger Leib — und haben verſchiedene Gnadengaben — Wenn nun der Fuß ſagte:
„Jch bin keine Hand u. ſ. w. Wenn der ganze Leib Auge waͤre, wo waͤre das Gehoͤr?
„u. ſ. w. Es darf das Auge nicht zu der Hand ſagen: ich bedarf deiner nicht. — Die,
„welche die ſchwaͤchern Glieder des Leibes zu ſeyn ſcheinen; dieſen legen wir deſto mehr
„Ehre an. — Gott hat den Leib ſo zuſammengeordnet, daß er dem, das weniger hatte,
„deſto mehr Ehre gegeben, damit keine Trennung am Leibe ſey, ſondern die Glieder
„fuͤr einander einerley Sorge tragen moͤgen. — Was thoͤricht iſt vor der Welt, das hat
„Gott erwaͤhlt, daß er zuſchanden mache was ſtark iſt; und das Unedle und das Ver-
„achtete vor der Welt hat Gott erwaͤhlet, und was nichts iſt, daß er zunichte mache was
„Etwas iſt, damit ſich kein Fleiſch vor Gott ruͤhmen moͤge ... Nur bleibe ein jeder in
„dem Berufe, wie er von Gott berufen iſt.“
Die Nelke ſoll nicht Tulpe, der Finger nicht
Auge ſeyn wollen — und der Schwache wolle ſich nicht erheben aus ſeinem Kreiſe in den Kreis des
Starken. Jeder hat ſeinen eigenen Kreis, wie ſeine eigene Geſtalt. Aus ſeinem Kreiſe heraus-
treten wollen — heißt: ſich auf einen andern Rumpf verpflanzen wollen.

4.

„Man verſichert, daß unſere wirkſame Natur in weniger Zeit als einem Jahre faſt kein
„Theilchen mehr von unſerm alten Koͤrper uͤbrig laſſe — und doch werden wir, ungeachtet unſer
„Koͤrper den groͤßten Veraͤnderungen von Speiſe, Trank und Luft ꝛc. unterworfen geweſen, keine
„Veraͤnderungen des Gemuͤths gewahr. Die Verſchiedenheit der Luft und der Lebensart bringt

keine
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[76/0104] I. Abſchnitt. IX. Fragment. Vermiſchte Gedanken 3. „Jedes Temperament und jeder Charakter hat ſein Gutes und Schlimmes. Der eine iſt „zu etwas aufgelegt, wozu der andere nicht faͤhig iſt. Freylich hat der eine mehr als der andere — „Das Gold hat einen hoͤhern Werth als die Muͤnze; gleichwohl koͤnnen wir jenes eher entbehren, „als dieſe. Die Tulpe gefaͤllt durch ihre Schoͤnheit; die Nelke reizt durch ihren Geruch; der un- „anſehnliche Wermuth iſt dem Geſchmacke und Geruche nach unangenehm; uͤbertrifft aber beyde „an Heilkraft. Und auf ſolche Art traͤgt ein jedes zur Vollkommenheit des Ganzen das Seinige „bey.“ — Jch ſetze aus Paulus hinzu: „Gleichwie wir an Einem Leibe viele Glieder ha- „ben, alle die Glieder aber nicht einerley Geſchaͤffte haben — alſo ſind wir viele Ein „Einziger Leib — und haben verſchiedene Gnadengaben — Wenn nun der Fuß ſagte: „Jch bin keine Hand u. ſ. w. Wenn der ganze Leib Auge waͤre, wo waͤre das Gehoͤr? „u. ſ. w. Es darf das Auge nicht zu der Hand ſagen: ich bedarf deiner nicht. — Die, „welche die ſchwaͤchern Glieder des Leibes zu ſeyn ſcheinen; dieſen legen wir deſto mehr „Ehre an. — Gott hat den Leib ſo zuſammengeordnet, daß er dem, das weniger hatte, „deſto mehr Ehre gegeben, damit keine Trennung am Leibe ſey, ſondern die Glieder „fuͤr einander einerley Sorge tragen moͤgen. — Was thoͤricht iſt vor der Welt, das hat „Gott erwaͤhlt, daß er zuſchanden mache was ſtark iſt; und das Unedle und das Ver- „achtete vor der Welt hat Gott erwaͤhlet, und was nichts iſt, daß er zunichte mache was „Etwas iſt, damit ſich kein Fleiſch vor Gott ruͤhmen moͤge ... Nur bleibe ein jeder in „dem Berufe, wie er von Gott berufen iſt.“ Die Nelke ſoll nicht Tulpe, der Finger nicht Auge ſeyn wollen — und der Schwache wolle ſich nicht erheben aus ſeinem Kreiſe in den Kreis des Starken. Jeder hat ſeinen eigenen Kreis, wie ſeine eigene Geſtalt. Aus ſeinem Kreiſe heraus- treten wollen — heißt: ſich auf einen andern Rumpf verpflanzen wollen. 4. „Man verſichert, daß unſere wirkſame Natur in weniger Zeit als einem Jahre faſt kein „Theilchen mehr von unſerm alten Koͤrper uͤbrig laſſe — und doch werden wir, ungeachtet unſer „Koͤrper den groͤßten Veraͤnderungen von Speiſe, Trank und Luft ꝛc. unterworfen geweſen, keine „Veraͤnderungen des Gemuͤths gewahr. Die Verſchiedenheit der Luft und der Lebensart bringt keine

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/104>, abgerufen am 17.11.2024.