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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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II. Abschnitt. II. Fragment.
"untere Theil seines Halses darf keine Krümmung machen; die Richtung seiner Linie muß von der
"Brust an bis an die Kinnbacken gerade seyn; doch darf er ein wenig vorwärts hängen. Gienge
"sie perpendikular, so würde das fehlerhaft seyn. Der obere Theil des Halses muß dünne; der
"Kamm nicht fleischigt; der Haare dran nicht sehr viel und nicht sehr wenig seyn; doch lang --
"und sie müssen loshängen. Der schöne Hals eines Pferdes ist lang, erhaben, und mit der gan-
"zen Natur des Pferdes übereinstimmend; ist er zu lang oder zu kurz, so schlägt der Kopf hin und
"her; der Kopf steht dann am rechten Orte, wenn die Stirn perpendikular gegen eine Horizontal-
"fläche hängt. Er darf nicht fleischigt, sondern er muß fein und nicht zu lang seyn. Die Ohren
"müssen nah an einander stehen, klein, aufgereckt, fest, eng, frey, und auf die Höhe des Kopfes
"wohl angepflanzt seyn. Die Stirn muß schmal und ein wenig gewölbt seyn; die Gruben über
"den Augen sollen ausgesüllt, die Augenlieder dünne, die Augen selbst helle, lebhaft, voll Feuer,
"dem Kopfe gleich herausstehend, und die Augäpfel groß seyn. Die Kinnbacken dürfen nicht flei-
"schigt, doch ein wenig dick; die Nase gebogen; die Nasenlöcher offen und wohl gespalten; die
"Spitze der Nase etwas dünne; die Lippen fein; der Mund mittelmäßig gespalten -- der Bug
"erhaben und geschlossen seyn."

Man verzeihe diese, aus dem encyklopädischen Wörterbuche genommene Beschreibung ei-
nes schönen Pferdes, in einem physiognomischen Versuche zur Beförderung der Menschen-
kenntniß und Menschenliebe.
Jhr lächelt? Laßt mich erst mitlächeln, und dann fragen: der
diese Beschreibung machte -- beweiset er nicht dadurch die Physiognomik, die an einem andern
Orte dieses Buchs unter die bloß chimärischen Wissenschaften herabgesetzt wird? Ein so gebildetes
Pferd -- wird es nicht, muß es nicht von einem bessern, edlern Charakter seyn, als -- ein ge-
meiner Karrengaul? --

Nicht nur schöner, -- edlern Charakters, sag' ich, stolzer, muthiger -- fester -- treuer,
sicherer. --

Und der, der so gebildet hat das Roß, das, in Vergleichung mit dem Menschen, keinen
Verstand hat
-- so in alle seine Glieder Schönheit und Adel, Kraft und Wahrheit ausgegossen
hat -- der -- sollte in dem Menschen, seinem Ebenbilde -- Auswendiges und Jnnwendiges wider-
sprechend gemacht haben? --

Wenig-
II. Abſchnitt. II. Fragment.
„untere Theil ſeines Halſes darf keine Kruͤmmung machen; die Richtung ſeiner Linie muß von der
„Bruſt an bis an die Kinnbacken gerade ſeyn; doch darf er ein wenig vorwaͤrts haͤngen. Gienge
„ſie perpendikular, ſo wuͤrde das fehlerhaft ſeyn. Der obere Theil des Halſes muß duͤnne; der
„Kamm nicht fleiſchigt; der Haare dran nicht ſehr viel und nicht ſehr wenig ſeyn; doch lang —
„und ſie muͤſſen loshaͤngen. Der ſchoͤne Hals eines Pferdes iſt lang, erhaben, und mit der gan-
„zen Natur des Pferdes uͤbereinſtimmend; iſt er zu lang oder zu kurz, ſo ſchlaͤgt der Kopf hin und
„her; der Kopf ſteht dann am rechten Orte, wenn die Stirn perpendikular gegen eine Horizontal-
„flaͤche haͤngt. Er darf nicht fleiſchigt, ſondern er muß fein und nicht zu lang ſeyn. Die Ohren
„muͤſſen nah an einander ſtehen, klein, aufgereckt, feſt, eng, frey, und auf die Hoͤhe des Kopfes
„wohl angepflanzt ſeyn. Die Stirn muß ſchmal und ein wenig gewoͤlbt ſeyn; die Gruben uͤber
„den Augen ſollen ausgeſuͤllt, die Augenlieder duͤnne, die Augen ſelbſt helle, lebhaft, voll Feuer,
„dem Kopfe gleich herausſtehend, und die Augaͤpfel groß ſeyn. Die Kinnbacken duͤrfen nicht flei-
„ſchigt, doch ein wenig dick; die Naſe gebogen; die Naſenloͤcher offen und wohl geſpalten; die
„Spitze der Naſe etwas duͤnne; die Lippen fein; der Mund mittelmaͤßig geſpalten — der Bug
„erhaben und geſchloſſen ſeyn.“

Man verzeihe dieſe, aus dem encyklopaͤdiſchen Woͤrterbuche genommene Beſchreibung ei-
nes ſchoͤnen Pferdes, in einem phyſiognomiſchen Verſuche zur Befoͤrderung der Menſchen-
kenntniß und Menſchenliebe.
Jhr laͤchelt? Laßt mich erſt mitlaͤcheln, und dann fragen: der
dieſe Beſchreibung machte — beweiſet er nicht dadurch die Phyſiognomik, die an einem andern
Orte dieſes Buchs unter die bloß chimaͤriſchen Wiſſenſchaften herabgeſetzt wird? Ein ſo gebildetes
Pferd — wird es nicht, muß es nicht von einem beſſern, edlern Charakter ſeyn, als — ein ge-
meiner Karrengaul? —

Nicht nur ſchoͤner, — edlern Charakters, ſag’ ich, ſtolzer, muthiger — feſter — treuer,
ſicherer. —

Und der, der ſo gebildet hat das Roß, das, in Vergleichung mit dem Menſchen, keinen
Verſtand hat
— ſo in alle ſeine Glieder Schoͤnheit und Adel, Kraft und Wahrheit ausgegoſſen
hat — der — ſollte in dem Menſchen, ſeinem Ebenbilde — Auswendiges und Jnnwendiges wider-
ſprechend gemacht haben? —

Wenig-
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/94>, abgerufen am 24.11.2024.