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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VI. Fragment. Ueber Raphael.
höchsten Einfachheit desselben! diese Einfachheit und Harmonie -- ist Resultat von der Propor-
tion
-- der Hauptform, der Flächen und der Umrisse! Hier stimmt würklich alles zusammen.
Es ist indessen nichts weniger, als der erhabenste Kopf, der sich gedenken läßt. Dieß Gesicht ließe
sich idealisiren -- aber dieses idealisirte Gesicht würde ganz unfehlbar -- die unaussprechliche Ein-
falt nicht in die Werke eingedrückt haben, die Raphaels Arbeiten so vermenschlichen. Die Werke
der alten griechischen Kunst sind auch einfältig -- aber sie haben das menschliche, vertrauliche
nicht, das, aller Hoheit ungeachtet, in so manchen der besten Stücke von Raphael noch auffallend
ist. Alle seine Marien, Jesus, Johannes, Josephs haben noch so viel häusliches, bürgerliches --
trauliches -- und gerade dieß scheint mir auch in dem Gesichte, das wir vor uns haben, so hell leuch-
tend zu seyn; -- hellleuchtend im Ganzen, in der Stellung, in jeglichem Zuge.

Liebe und Wollust; Einfalt und hoher poetischer Sinn ist über das ganze Gesicht ausge-
gossen. Poetischer Sinn, ohn' alles kalte Raisonnierwesen, Zergliedern und Zusammenreihen oder
Zusammenflicken.

Des III. Ban-
des VI. Tafel.
Kaphael.

Jn dieser offnen einfachen harmlosen Stirne, die wir hier vor uns sehen -- ist die
Anstrengungsloseste Empfänglichkeit. So auch im Raume zwischen den Augenbrau-
nen. So flach gewölbt, breit, zuglos, ist's bey keinem Spekulierer, Staatsklugen, Me-
taphysiker, Räsonnierer -- und auch keinem Helden und Krieger. Die Augenbraunen sind ganz des
dichterischen Mahlers. Nicht Geist, nicht Witz, nicht Kunstbesonnenheit -- nur Kunstseele, Natur-
seele, Kunstverliebtheit, die Naturgefühl ist -- im Auge! -- Das rechte Auge, obwohl aufm Ku-
pfer zu hart, ist dennoch wie voll Einfalt und Liebe! Der Knopf der Nase ist voll Ausdrucks des
reinsten Adels. -- Und der Mund -- welch ewiger Buchstabe liebenden Hochgefühls und schmach-
tender Einfalt! -- Hals! Stellung! -- Haar! wie simpel alles! wie alles im Tone des Gesichtes!
wie alles evangelisch, apostolisch -- Nicht, wie unsere Prediger evangelisiren, unsere Dichter aposto-
lisiren! unsere Mahler vandykisiren! -- Jn dem Haare allein -- ist so viel Ausdruck des hohen
Einfaltgefühls, der ganzen Seele Raphaels, und aller Werke Raphaels. --

O daß mir Gott einen solchen lebenden Menschen sendete -- wie würde ich sein Knie um-
fassen und sagen: "Jch bin nicht werth, daß du unter mein Dach eingehest" ... Wenn ich Gott-
heitsgefühle in mir erwecken will, denk ich Raphaels Schöpfer!

Des

VI. Fragment. Ueber Raphael.
hoͤchſten Einfachheit deſſelben! dieſe Einfachheit und Harmonie — iſt Reſultat von der Propor-
tion
— der Hauptform, der Flaͤchen und der Umriſſe! Hier ſtimmt wuͤrklich alles zuſammen.
Es iſt indeſſen nichts weniger, als der erhabenſte Kopf, der ſich gedenken laͤßt. Dieß Geſicht ließe
ſich idealiſiren — aber dieſes idealiſirte Geſicht wuͤrde ganz unfehlbar — die unausſprechliche Ein-
falt nicht in die Werke eingedruͤckt haben, die Raphaels Arbeiten ſo vermenſchlichen. Die Werke
der alten griechiſchen Kunſt ſind auch einfaͤltig — aber ſie haben das menſchliche, vertrauliche
nicht, das, aller Hoheit ungeachtet, in ſo manchen der beſten Stuͤcke von Raphael noch auffallend
iſt. Alle ſeine Marien, Jeſus, Johannes, Joſephs haben noch ſo viel haͤusliches, buͤrgerliches —
trauliches — und gerade dieß ſcheint mir auch in dem Geſichte, das wir vor uns haben, ſo hell leuch-
tend zu ſeyn; — hellleuchtend im Ganzen, in der Stellung, in jeglichem Zuge.

Liebe und Wolluſt; Einfalt und hoher poetiſcher Sinn iſt uͤber das ganze Geſicht ausge-
goſſen. Poetiſcher Sinn, ohn’ alles kalte Raiſonnierweſen, Zergliedern und Zuſammenreihen oder
Zuſammenflicken.

Des III. Ban-
des VI. Tafel.
Kaphael.

Jn dieſer offnen einfachen harmloſen Stirne, die wir hier vor uns ſehen — iſt die
Anſtrengungsloſeſte Empfaͤnglichkeit. So auch im Raume zwiſchen den Augenbrau-
nen. So flach gewoͤlbt, breit, zuglos, iſt’s bey keinem Spekulierer, Staatsklugen, Me-
taphyſiker, Raͤſonnierer — und auch keinem Helden und Krieger. Die Augenbraunen ſind ganz des
dichteriſchen Mahlers. Nicht Geiſt, nicht Witz, nicht Kunſtbeſonnenheit — nur Kunſtſeele, Natur-
ſeele, Kunſtverliebtheit, die Naturgefuͤhl iſt — im Auge! — Das rechte Auge, obwohl aufm Ku-
pfer zu hart, iſt dennoch wie voll Einfalt und Liebe! Der Knopf der Naſe iſt voll Ausdrucks des
reinſten Adels. — Und der Mund — welch ewiger Buchſtabe liebenden Hochgefuͤhls und ſchmach-
tender Einfalt! — Hals! Stellung! — Haar! wie ſimpel alles! wie alles im Tone des Geſichtes!
wie alles evangeliſch, apoſtoliſch — Nicht, wie unſere Prediger evangeliſiren, unſere Dichter apoſto-
liſiren! unſere Mahler vandykiſiren! — Jn dem Haare allein — iſt ſo viel Ausdruck des hohen
Einfaltgefuͤhls, der ganzen Seele Raphaels, und aller Werke Raphaels. —

O daß mir Gott einen ſolchen lebenden Menſchen ſendete — wie wuͤrde ich ſein Knie um-
faſſen und ſagen: „Jch bin nicht werth, daß du unter mein Dach eingeheſt“ ... Wenn ich Gott-
heitsgefuͤhle in mir erwecken will, denk ich Raphaels Schoͤpfer!

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[60/0086] VI. Fragment. Ueber Raphael. hoͤchſten Einfachheit deſſelben! dieſe Einfachheit und Harmonie — iſt Reſultat von der Propor- tion — der Hauptform, der Flaͤchen und der Umriſſe! Hier ſtimmt wuͤrklich alles zuſammen. Es iſt indeſſen nichts weniger, als der erhabenſte Kopf, der ſich gedenken laͤßt. Dieß Geſicht ließe ſich idealiſiren — aber dieſes idealiſirte Geſicht wuͤrde ganz unfehlbar — die unausſprechliche Ein- falt nicht in die Werke eingedruͤckt haben, die Raphaels Arbeiten ſo vermenſchlichen. Die Werke der alten griechiſchen Kunſt ſind auch einfaͤltig — aber ſie haben das menſchliche, vertrauliche nicht, das, aller Hoheit ungeachtet, in ſo manchen der beſten Stuͤcke von Raphael noch auffallend iſt. Alle ſeine Marien, Jeſus, Johannes, Joſephs haben noch ſo viel haͤusliches, buͤrgerliches — trauliches — und gerade dieß ſcheint mir auch in dem Geſichte, das wir vor uns haben, ſo hell leuch- tend zu ſeyn; — hellleuchtend im Ganzen, in der Stellung, in jeglichem Zuge. Liebe und Wolluſt; Einfalt und hoher poetiſcher Sinn iſt uͤber das ganze Geſicht ausge- goſſen. Poetiſcher Sinn, ohn’ alles kalte Raiſonnierweſen, Zergliedern und Zuſammenreihen oder Zuſammenflicken. Jn dieſer offnen einfachen harmloſen Stirne, die wir hier vor uns ſehen — iſt die Anſtrengungsloſeſte Empfaͤnglichkeit. So auch im Raume zwiſchen den Augenbrau- nen. So flach gewoͤlbt, breit, zuglos, iſt’s bey keinem Spekulierer, Staatsklugen, Me- taphyſiker, Raͤſonnierer — und auch keinem Helden und Krieger. Die Augenbraunen ſind ganz des dichteriſchen Mahlers. Nicht Geiſt, nicht Witz, nicht Kunſtbeſonnenheit — nur Kunſtſeele, Natur- ſeele, Kunſtverliebtheit, die Naturgefuͤhl iſt — im Auge! — Das rechte Auge, obwohl aufm Ku- pfer zu hart, iſt dennoch wie voll Einfalt und Liebe! Der Knopf der Naſe iſt voll Ausdrucks des reinſten Adels. — Und der Mund — welch ewiger Buchſtabe liebenden Hochgefuͤhls und ſchmach- tender Einfalt! — Hals! Stellung! — Haar! wie ſimpel alles! wie alles im Tone des Geſichtes! wie alles evangeliſch, apoſtoliſch — Nicht, wie unſere Prediger evangeliſiren, unſere Dichter apoſto- liſiren! unſere Mahler vandykiſiren! — Jn dem Haare allein — iſt ſo viel Ausdruck des hohen Einfaltgefuͤhls, der ganzen Seele Raphaels, und aller Werke Raphaels. — O daß mir Gott einen ſolchen lebenden Menſchen ſendete — wie wuͤrde ich ſein Knie um- faſſen und ſagen: „Jch bin nicht werth, daß du unter mein Dach eingeheſt“ ... Wenn ich Gott- heitsgefuͤhle in mir erwecken will, denk ich Raphaels Schoͤpfer! Des

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/86>, abgerufen am 22.11.2024.