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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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IV. Fragment.

"Aber jene Griechen waren ja blinde Heyden, und wir sind gläubige Christen!" -- Jch
möchte den schaalen Kopf sehen, der etwas platteres sagen könnte: Nicht dem, der die Einwendung
schalkhaft und gewiß nicht im Ernste macht; -- sondern dem einfältigen geraden Wahrheitliebenden
Menschensinn antworte ich. Und -- was?

Das Christenthum würkt, wie sein Meister Christus! Es giebt keine Augen dem, der keine
hat; sondern es erleuchtet die Augen des Blinden. Es schafft keine Ohren; aber es macht taube
Ohren hörend. Es ist Geist und Leben und Kraft für jegliches Gefäß; jeden Körper nach seiner
Organisation und Empfänglichkeit. Es verschönert alles nur nach seiner innern, individuellen
Verschönbarkeit. Also können die "blinden" Heyden, ihrer Anlage nach, in Ansehung ihrer Or-
ganisation und Bildung, nach dem unerforschlichen freyen Willen ihres Schöpfers, weit schönere
Gestalten gewesen seyn, als wir -- obgleich manche ihrer würdigsten Fähigkeiten, deren Entwicke-
lung nur dem Christenthume vorbehalten ist, in ihnen nicht entwickelt wurden.

Und dann, guter Gott, ist viel von unserm Glauben und Christenthum, das uns ver-
schönern soll .. zu preisen! Ja! wenn Schminke verschönert! Aus innwendigem Leben, innigst
erregter sanfter, treffender Würkungskraft -- daher quillt Veredlung, Salbung der Menschenge-
stalt .. Und wie viel anders war die in euch würdigen alten Heyden -- die ihrem Lichte so viel
redlicher folgten -- als wir -- Ja! hocherleuchtete! Söhne des achtzehnten Jahrhunderts ... dem
unsern! .. Wenn Christus Euch offenbar worden wäre ... (vielleicht ist ers Euch itzt schon mehr,
als uns) -- mit welchen Anbetungen würdet ihr zu seinen Füßen liegen! .. Aber da kömmt nun
ein Schulmeister her, dem der Namen Christus Dorn in Augen ist, der zwickt mit der Peitsche --
"wozu der Christus immer in physiognomischen Fragmenten?" -- Freund! kein Wort, als:
"gehe mir aus der Sonne!" -- ..

Gesunken, gesunken ist das Menschengeschlecht ... Hefe der Zeit sind wir! ein abscheuli-
ches Geschlecht im Ganzen .. kaum angehaucht mit der Tugendschminke! .. Religion, Wort; Chri-
stenthum, Spott ... und daß wirs nicht fühlen, daß wir gesunken sind, uns nicht schämen unserer
so erniedrigten Gestalten und verzerrten fleischigen Bildungen -- ist wohl der Versunkenheit größ-
ter Beweis ...

Doch
IV. Fragment.

„Aber jene Griechen waren ja blinde Heyden, und wir ſind glaͤubige Chriſten!“ — Jch
moͤchte den ſchaalen Kopf ſehen, der etwas platteres ſagen koͤnnte: Nicht dem, der die Einwendung
ſchalkhaft und gewiß nicht im Ernſte macht; — ſondern dem einfaͤltigen geraden Wahrheitliebenden
Menſchenſinn antworte ich. Und — was?

Das Chriſtenthum wuͤrkt, wie ſein Meiſter Chriſtus! Es giebt keine Augen dem, der keine
hat; ſondern es erleuchtet die Augen des Blinden. Es ſchafft keine Ohren; aber es macht taube
Ohren hoͤrend. Es iſt Geiſt und Leben und Kraft fuͤr jegliches Gefaͤß; jeden Koͤrper nach ſeiner
Organiſation und Empfaͤnglichkeit. Es verſchoͤnert alles nur nach ſeiner innern, individuellen
Verſchoͤnbarkeit. Alſo koͤnnen die „blinden“ Heyden, ihrer Anlage nach, in Anſehung ihrer Or-
ganiſation und Bildung, nach dem unerforſchlichen freyen Willen ihres Schoͤpfers, weit ſchoͤnere
Geſtalten geweſen ſeyn, als wir — obgleich manche ihrer wuͤrdigſten Faͤhigkeiten, deren Entwicke-
lung nur dem Chriſtenthume vorbehalten iſt, in ihnen nicht entwickelt wurden.

Und dann, guter Gott, iſt viel von unſerm Glauben und Chriſtenthum, das uns ver-
ſchoͤnern ſoll .. zu preiſen! Ja! wenn Schminke verſchoͤnert! Aus innwendigem Leben, innigſt
erregter ſanfter, treffender Wuͤrkungskraft — daher quillt Veredlung, Salbung der Menſchenge-
ſtalt .. Und wie viel anders war die in euch wuͤrdigen alten Heyden — die ihrem Lichte ſo viel
redlicher folgten — als wir — Ja! hocherleuchtete! Soͤhne des achtzehnten Jahrhunderts ... dem
unſern! .. Wenn Chriſtus Euch offenbar worden waͤre ... (vielleicht iſt ers Euch itzt ſchon mehr,
als uns) — mit welchen Anbetungen wuͤrdet ihr zu ſeinen Fuͤßen liegen! .. Aber da koͤmmt nun
ein Schulmeiſter her, dem der Namen Chriſtus Dorn in Augen iſt, der zwickt mit der Peitſche —
„wozu der Chriſtus immer in phyſiognomiſchen Fragmenten?“ — Freund! kein Wort, als:
„gehe mir aus der Sonne!“ — ..

Geſunken, geſunken iſt das Menſchengeſchlecht ... Hefe der Zeit ſind wir! ein abſcheuli-
ches Geſchlecht im Ganzen .. kaum angehaucht mit der Tugendſchminke! .. Religion, Wort; Chri-
ſtenthum, Spott ... und daß wirs nicht fuͤhlen, daß wir geſunken ſind, uns nicht ſchaͤmen unſerer
ſo erniedrigten Geſtalten und verzerrten fleiſchigen Bildungen — iſt wohl der Verſunkenheit groͤß-
ter Beweis ...

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[46/0064] IV. Fragment. „Aber jene Griechen waren ja blinde Heyden, und wir ſind glaͤubige Chriſten!“ — Jch moͤchte den ſchaalen Kopf ſehen, der etwas platteres ſagen koͤnnte: Nicht dem, der die Einwendung ſchalkhaft und gewiß nicht im Ernſte macht; — ſondern dem einfaͤltigen geraden Wahrheitliebenden Menſchenſinn antworte ich. Und — was? Das Chriſtenthum wuͤrkt, wie ſein Meiſter Chriſtus! Es giebt keine Augen dem, der keine hat; ſondern es erleuchtet die Augen des Blinden. Es ſchafft keine Ohren; aber es macht taube Ohren hoͤrend. Es iſt Geiſt und Leben und Kraft fuͤr jegliches Gefaͤß; jeden Koͤrper nach ſeiner Organiſation und Empfaͤnglichkeit. Es verſchoͤnert alles nur nach ſeiner innern, individuellen Verſchoͤnbarkeit. Alſo koͤnnen die „blinden“ Heyden, ihrer Anlage nach, in Anſehung ihrer Or- ganiſation und Bildung, nach dem unerforſchlichen freyen Willen ihres Schoͤpfers, weit ſchoͤnere Geſtalten geweſen ſeyn, als wir — obgleich manche ihrer wuͤrdigſten Faͤhigkeiten, deren Entwicke- lung nur dem Chriſtenthume vorbehalten iſt, in ihnen nicht entwickelt wurden. Und dann, guter Gott, iſt viel von unſerm Glauben und Chriſtenthum, das uns ver- ſchoͤnern ſoll .. zu preiſen! Ja! wenn Schminke verſchoͤnert! Aus innwendigem Leben, innigſt erregter ſanfter, treffender Wuͤrkungskraft — daher quillt Veredlung, Salbung der Menſchenge- ſtalt .. Und wie viel anders war die in euch wuͤrdigen alten Heyden — die ihrem Lichte ſo viel redlicher folgten — als wir — Ja! hocherleuchtete! Soͤhne des achtzehnten Jahrhunderts ... dem unſern! .. Wenn Chriſtus Euch offenbar worden waͤre ... (vielleicht iſt ers Euch itzt ſchon mehr, als uns) — mit welchen Anbetungen wuͤrdet ihr zu ſeinen Fuͤßen liegen! .. Aber da koͤmmt nun ein Schulmeiſter her, dem der Namen Chriſtus Dorn in Augen iſt, der zwickt mit der Peitſche — „wozu der Chriſtus immer in phyſiognomiſchen Fragmenten?“ — Freund! kein Wort, als: „gehe mir aus der Sonne!“ — .. Geſunken, geſunken iſt das Menſchengeſchlecht ... Hefe der Zeit ſind wir! ein abſcheuli- ches Geſchlecht im Ganzen .. kaum angehaucht mit der Tugendſchminke! .. Religion, Wort; Chri- ſtenthum, Spott ... und daß wirs nicht fuͤhlen, daß wir geſunken ſind, uns nicht ſchaͤmen unſerer ſo erniedrigten Geſtalten und verzerrten fleiſchigen Bildungen — iſt wohl der Verſunkenheit groͤß- ter Beweis ... Doch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/64>, abgerufen am 22.11.2024.