Das Kind des Franzosen lernt Französisch, des Deutschen deutsch. Jeder Schüler eines Mahlers ahmt glücklicher oder unglücklicher die Manier oder den Styl seines Meisters nach.
Es ließe sich durch die vollkommenste Jnduktion unwidersprechlich darthun: daß jeder Mah- ler seinen oder -- seine Meister -- die um ihn lebende Natur seines Zeitalters, und sich selbst kopiert hat. So jeder Bildhauer; so jeder Schriftsteller; so jeder Patriot. Die eigene Manier eines Genies in der Kunst, Wissenschaft und Tugend ist bloß, die durch seine besondere Lage modi- fizirte Nachahmung seines Helden.
Eine Wahrheit von so millionenfachen Beweisen -- darf sie ohne Unverschämtheit -- darf sie im Ernste in Zweifel gezogen werden? -- Jch glaub' es nicht! Man nenne sich nur die Namen Raphael, Rubens, Rembrand, Vandyk -- Oßian, Homer, Milton, Klopstock -- man lasse sich ihre Werke nur durch den Kopf laufen -- die herrlichsten Originale -- und dennoch nur Kopisten -- ihrer Meister, der Natur, und ihrer selbst. Sie sahen nur individuell die Natur, durch das Medium der Werke ihrer Meister und Vorbilder -- das machte sie zu Originalen und Genies. Der ungenialische Nachahmer -- ahmt nur den Meister oder die Natur nach, ohne Theil- nehmung, ohne Tinktur seiner Verschwisterung mit der nachgeahmten Sache; er zeichnet eigent- lich nur durch. Nicht so, wer Original ist, das Genie. Er ahmt zwar auch nach -- aber er zeichnet nicht durch -- er setzt seine Nachahmungen nicht wie ein Flickwerk zusammen. Er schmilzt sie durch einen Zusatz seiner theilnehmenden Jndividualität zu einem homogenen Ganzen -- und dieß homogene Ganze ist so neu, so von allen andern Zusammenflickungen seines Zeitalters ver- schieden, daß man's neues Geschöpf, Jdeal, Erfindung heißt. Nur so, wie der Chymist Schöpfer der Metalle ist -- nur so der Mahler der Gemählde; -- der Bildhauer seiner Bilder.
Schöne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunst sind also immer ganz zuverläßi- ges Siegel und Pfand -- schönerer Urbilder, schönerer Natur -- und eines Auges, das gebildet war, von diesen Schönheiten affizirt und hingerissen zu werden. Was Aug' ohne Licht ist, was Weib ohne Mann -- ist Genie ohne affizirende Sinnlichkeit außer sich. Es wird von seinem Zeit- alter eben so sehr gestimmt, als es hinwieder sein Zeitalter weckt und stimmt. Es giebt nur umge- schmolzen, zusammengeschmolzen seinem Zeitalter zurück, was es an einfachen Jngredienzen er- hielt. -- Welcher seichte Kopf -- oder welcher Philosoph von Profession und Prätension -- wird
uns
Phys. Fragm.IIIVersuch. F
Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.
Das Kind des Franzoſen lernt Franzoͤſiſch, des Deutſchen deutſch. Jeder Schuͤler eines Mahlers ahmt gluͤcklicher oder ungluͤcklicher die Manier oder den Styl ſeines Meiſters nach.
Es ließe ſich durch die vollkommenſte Jnduktion unwiderſprechlich darthun: daß jeder Mah- ler ſeinen oder — ſeine Meiſter — die um ihn lebende Natur ſeines Zeitalters, und ſich ſelbſt kopiert hat. So jeder Bildhauer; ſo jeder Schriftſteller; ſo jeder Patriot. Die eigene Manier eines Genies in der Kunſt, Wiſſenſchaft und Tugend iſt bloß, die durch ſeine beſondere Lage modi- fizirte Nachahmung ſeines Helden.
Eine Wahrheit von ſo millionenfachen Beweiſen — darf ſie ohne Unverſchaͤmtheit — darf ſie im Ernſte in Zweifel gezogen werden? — Jch glaub’ es nicht! Man nenne ſich nur die Namen Raphael, Rubens, Rembrand, Vandyk — Oßian, Homer, Milton, Klopſtock — man laſſe ſich ihre Werke nur durch den Kopf laufen — die herrlichſten Originale — und dennoch nur Kopiſten — ihrer Meiſter, der Natur, und ihrer ſelbſt. Sie ſahen nur individuell die Natur, durch das Medium der Werke ihrer Meiſter und Vorbilder — das machte ſie zu Originalen und Genies. Der ungenialiſche Nachahmer — ahmt nur den Meiſter oder die Natur nach, ohne Theil- nehmung, ohne Tinktur ſeiner Verſchwiſterung mit der nachgeahmten Sache; er zeichnet eigent- lich nur durch. Nicht ſo, wer Original iſt, das Genie. Er ahmt zwar auch nach — aber er zeichnet nicht durch — er ſetzt ſeine Nachahmungen nicht wie ein Flickwerk zuſammen. Er ſchmilzt ſie durch einen Zuſatz ſeiner theilnehmenden Jndividualitaͤt zu einem homogenen Ganzen — und dieß homogene Ganze iſt ſo neu, ſo von allen andern Zuſammenflickungen ſeines Zeitalters ver- ſchieden, daß man’s neues Geſchoͤpf, Jdeal, Erfindung heißt. Nur ſo, wie der Chymiſt Schoͤpfer der Metalle iſt — nur ſo der Mahler der Gemaͤhlde; — der Bildhauer ſeiner Bilder.
Schoͤne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunſt ſind alſo immer ganz zuverlaͤßi- ges Siegel und Pfand — ſchoͤnerer Urbilder, ſchoͤnerer Natur — und eines Auges, das gebildet war, von dieſen Schoͤnheiten affizirt und hingeriſſen zu werden. Was Aug’ ohne Licht iſt, was Weib ohne Mann — iſt Genie ohne affizirende Sinnlichkeit außer ſich. Es wird von ſeinem Zeit- alter eben ſo ſehr geſtimmt, als es hinwieder ſein Zeitalter weckt und ſtimmt. Es giebt nur umge- ſchmolzen, zuſammengeſchmolzen ſeinem Zeitalter zuruͤck, was es an einfachen Jngredienzen er- hielt. — Welcher ſeichte Kopf — oder welcher Philoſoph von Profeſſion und Praͤtenſion — wird
uns
Phyſ. Fragm.IIIVerſuch. F
<TEI><text><body><divn="2"><pbfacs="#f0059"n="41"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.</hi></fw><lb/><p>Das Kind des Franzoſen lernt Franzoͤſiſch, des Deutſchen deutſch. Jeder Schuͤler<lb/><hirendition="#fr">eines</hi> Mahlers ahmt gluͤcklicher oder ungluͤcklicher die Manier oder den Styl ſeines Meiſters nach.</p><lb/><p>Es ließe ſich durch die vollkommenſte Jnduktion unwiderſprechlich darthun: daß jeder Mah-<lb/>
ler ſeinen oder —ſeine <hirendition="#fr">Meiſter</hi>— die um ihn lebende <hirendition="#fr">Natur ſeines Zeitalters,</hi> und <hirendition="#fr">ſich ſelbſt</hi><lb/>
kopiert hat. So jeder Bildhauer; ſo jeder Schriftſteller; ſo jeder Patriot. Die eigene Manier<lb/>
eines Genies in der Kunſt, Wiſſenſchaft und Tugend iſt bloß, die durch ſeine beſondere Lage modi-<lb/>
fizirte Nachahmung ſeines Helden.</p><lb/><p>Eine Wahrheit von ſo millionenfachen Beweiſen — darf ſie ohne Unverſchaͤmtheit — darf<lb/>ſie im Ernſte in Zweifel gezogen werden? — Jch glaub’ es nicht! Man nenne ſich nur die Namen<lb/><hirendition="#fr">Raphael, Rubens, Rembrand, Vandyk — Oßian, Homer, Milton, Klopſtock</hi>—<lb/>
man laſſe ſich ihre Werke nur durch den Kopf laufen — die herrlichſten Originale — und dennoch<lb/>
nur Kopiſten — ihrer Meiſter, der Natur, und ihrer ſelbſt. Sie ſahen nur individuell die Natur,<lb/>
durch das Medium der Werke ihrer Meiſter und Vorbilder — das machte ſie zu Originalen und<lb/>
Genies. Der ungenialiſche Nachahmer — ahmt nur den Meiſter oder die Natur nach, ohne Theil-<lb/>
nehmung, ohne Tinktur ſeiner Verſchwiſterung mit der nachgeahmten Sache; <hirendition="#fr">er zeichnet eigent-<lb/>
lich nur durch.</hi> Nicht ſo, wer Original iſt, das Genie. Er ahmt zwar auch nach — aber er<lb/>
zeichnet nicht durch — er ſetzt ſeine Nachahmungen nicht wie ein <hirendition="#fr">Flickwerk</hi> zuſammen. Er <hirendition="#fr">ſchmilzt</hi><lb/>ſie durch einen <hirendition="#fr">Zuſatz</hi>ſeiner theilnehmenden <hirendition="#fr">Jndividualitaͤt</hi> zu einem <hirendition="#fr">homogenen Ganzen</hi>—<lb/>
und dieß homogene Ganze iſt ſo neu, ſo von allen andern Zuſammenflickungen ſeines Zeitalters ver-<lb/>ſchieden, daß man’s neues <hirendition="#fr">Geſchoͤpf, Jdeal, Erfindung</hi> heißt. Nur ſo, wie der Chymiſt<lb/>
Schoͤpfer der Metalle iſt — nur ſo der Mahler der Gemaͤhlde; — der Bildhauer ſeiner Bilder.</p><lb/><p>Schoͤne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunſt ſind alſo immer ganz zuverlaͤßi-<lb/>
ges Siegel und Pfand —ſchoͤnerer Urbilder, ſchoͤnerer Natur — und eines Auges, das gebildet<lb/>
war, von dieſen Schoͤnheiten affizirt und hingeriſſen zu werden. Was Aug’ ohne Licht iſt, was<lb/>
Weib ohne Mann — iſt Genie ohne affizirende Sinnlichkeit außer ſich. Es wird von ſeinem Zeit-<lb/>
alter eben ſo ſehr geſtimmt, als es hinwieder ſein Zeitalter weckt und ſtimmt. Es giebt nur umge-<lb/>ſchmolzen, zuſammengeſchmolzen ſeinem Zeitalter zuruͤck, was es an einfachen Jngredienzen er-<lb/>
hielt. — Welcher ſeichte Kopf — oder welcher Philoſoph von Profeſſion und Praͤtenſion — wird<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Phyſ. Fragm.</hi><hirendition="#aq">III</hi><hirendition="#fr">Verſuch.</hi> F</fw><fwplace="bottom"type="catch">uns</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[41/0059]
Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.
Das Kind des Franzoſen lernt Franzoͤſiſch, des Deutſchen deutſch. Jeder Schuͤler
eines Mahlers ahmt gluͤcklicher oder ungluͤcklicher die Manier oder den Styl ſeines Meiſters nach.
Es ließe ſich durch die vollkommenſte Jnduktion unwiderſprechlich darthun: daß jeder Mah-
ler ſeinen oder — ſeine Meiſter — die um ihn lebende Natur ſeines Zeitalters, und ſich ſelbſt
kopiert hat. So jeder Bildhauer; ſo jeder Schriftſteller; ſo jeder Patriot. Die eigene Manier
eines Genies in der Kunſt, Wiſſenſchaft und Tugend iſt bloß, die durch ſeine beſondere Lage modi-
fizirte Nachahmung ſeines Helden.
Eine Wahrheit von ſo millionenfachen Beweiſen — darf ſie ohne Unverſchaͤmtheit — darf
ſie im Ernſte in Zweifel gezogen werden? — Jch glaub’ es nicht! Man nenne ſich nur die Namen
Raphael, Rubens, Rembrand, Vandyk — Oßian, Homer, Milton, Klopſtock —
man laſſe ſich ihre Werke nur durch den Kopf laufen — die herrlichſten Originale — und dennoch
nur Kopiſten — ihrer Meiſter, der Natur, und ihrer ſelbſt. Sie ſahen nur individuell die Natur,
durch das Medium der Werke ihrer Meiſter und Vorbilder — das machte ſie zu Originalen und
Genies. Der ungenialiſche Nachahmer — ahmt nur den Meiſter oder die Natur nach, ohne Theil-
nehmung, ohne Tinktur ſeiner Verſchwiſterung mit der nachgeahmten Sache; er zeichnet eigent-
lich nur durch. Nicht ſo, wer Original iſt, das Genie. Er ahmt zwar auch nach — aber er
zeichnet nicht durch — er ſetzt ſeine Nachahmungen nicht wie ein Flickwerk zuſammen. Er ſchmilzt
ſie durch einen Zuſatz ſeiner theilnehmenden Jndividualitaͤt zu einem homogenen Ganzen —
und dieß homogene Ganze iſt ſo neu, ſo von allen andern Zuſammenflickungen ſeines Zeitalters ver-
ſchieden, daß man’s neues Geſchoͤpf, Jdeal, Erfindung heißt. Nur ſo, wie der Chymiſt
Schoͤpfer der Metalle iſt — nur ſo der Mahler der Gemaͤhlde; — der Bildhauer ſeiner Bilder.
Schoͤne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunſt ſind alſo immer ganz zuverlaͤßi-
ges Siegel und Pfand — ſchoͤnerer Urbilder, ſchoͤnerer Natur — und eines Auges, das gebildet
war, von dieſen Schoͤnheiten affizirt und hingeriſſen zu werden. Was Aug’ ohne Licht iſt, was
Weib ohne Mann — iſt Genie ohne affizirende Sinnlichkeit außer ſich. Es wird von ſeinem Zeit-
alter eben ſo ſehr geſtimmt, als es hinwieder ſein Zeitalter weckt und ſtimmt. Es giebt nur umge-
ſchmolzen, zuſammengeſchmolzen ſeinem Zeitalter zuruͤck, was es an einfachen Jngredienzen er-
hielt. — Welcher ſeichte Kopf — oder welcher Philoſoph von Profeſſion und Praͤtenſion — wird
uns
Phyſ. Fragm. III Verſuch. F
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/59>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.